Frust über G 8:Verwandelt Schulen endlich in Lebensräume!

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Kürzer lernen, weniger wissen. Das achtjährige Gymnasium frustriert Schüler, Eltern und Professoren. Aus dem Lehrplan wurde ein Diätplan. Nötig wäre etwas anderes: die Entdeckung der Langsamkeit.

Johann Osel

Ein "Ruck" sollte durch Deutschland gehen, Mutlosigkeit und Erstarrung sollten überwunden werden. So forderte es Bundespräsident Roman Herzog in seiner berühmten Rede von 1997, und was die Bildung betraf, hatte er auch gleich eine konkrete Empfehlung. Warum sollte nicht auch hierzulande das Abitur in zwölf Jahren möglich sein? Die Welt sei "im Aufbruch und wartet nicht auf Deutschland", sagte Herzog, die verlorenen Jahre auf der Schulbank seien "gestohlene Lebenszeit".

Reformen geplant: Das achtjährige Gymnasium soll verbessert werden. (Foto: dpa)

Viele Politiker folgten artig, vor allem die Ehrgeizlinge: Alle Bundesländer haben das G 8 beschlossen, Bayerns damaliger Ministerpräsident Edmund Stoiber führte es mit einem Vorlauf von nur wenigen Monaten ein. Die ersten doppelten Abschlussjahrgänge - Absolventen des alten G 9 und des neuen G 8 - haben schon die Schulen verlassen. Dennoch ist die Reform allgemein nicht akzeptiert, unter dem Druck der Öffentlichkeit bastelt die Politik am Abitur herum - und weiß nicht genau, wo sie eigentlich hinwill.

Die Gemengelage ist brisant: Schüler und Eltern sind frustriert, sie sagen, im G 8 müsse man so viel lernen, dass es die Freizeit raube, ja die Jugend. Professoren beklagen, die Stundenpläne seien so sehr entschlackt worden, dass die Abiturienten nun mit Mängeln selbst beim Wortschatz ins Studium kämen. Und weil all diese Kritiker zugleich auch Wähler sind, können sie die Politik vor sich her treiben. Hessen will künftig Schulen die Wahl zwischen G 8 und G 9 lassen. In Bayern, wo das leidige Thema die CSU im aufkeimenden Wahlkampf trifft, lehnt Ministerpräsident Horst Seehofer zwar die Rückkehr zum G 9 ab, bietet aber inzwischen das "Vertiefungsjahr" an - eine Art inoffizielles Sitzenbleiben für Überforderte.

Aus pädagogischer Sicht bietet G 8 keine Vorteile

Es ist eine Entschleunigung - und das zu Recht. Natürlich lässt sich, wie Ökonomen das tun, Bildungszeit in volkswirtschaftlichen Schaden oder Nutzen umrechnen. Aus pädagogischer Sicht aber bietet das G 8 keine Vorteile: Es bringt wenig, ein Jahr früher ins Ziel zu kommen, wenn der Preis dafür dauerhafte Blessuren sind. "Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind", schrieb einst Theodor Adorno.

Im Lehrplan des bayerischen G 8 fürs Fach Geschichte wird das Thema "Weimarer Republik" weitgehend auf deren Untergang beschränkt. So produziert man Abiturienten, die womöglich noch nie etwas vom Außenminister Walther Rathenau gehört haben oder die "Goldenen Zwanziger" für eine Währung halten. Wie soll da Verständnis für politische Systeme wachsen, und das Denken in Zusammenhängen trainiert werden?

Das G 8 macht aus dem Lehrplan einen Diätplan: Es setzt stärker auf Texthappen statt auf vollständige Lektüren, es streicht die Wiederholung von Themen, obwohl das die Meinungsbildung doch erst ermöglichen würde. Den Lehrern wird der Spielraum genommen für alles, was Begeisterung wecken könnte. Jede Gesellschaft braucht Bildungsbürger im allerbesten Sinne; wo anders als im Gymnasium sollten sie die nötigen Grundlagen erhalten? Das lief schon im G 9 nicht perfekt, im G 8 gelingt es allerdings erst recht nicht.

Es war der Zeitgeist, der das kürzere Gymnasium gebracht hat; an den Universitäten entstand mit dem Bachelor nach sechs Semestern etwas Ähnliches. So bekommt die Wirtschaft 21-jährige Akademiker. Lange Zeit war genau das gefordert worden. Mittlerweile haben erste Bachelor-Jahrgänge die Unis verlassen, und was haftet den Absolventen an? Der Ruf des Schmalspur-Akademikers.

Nötig wäre die Entdeckung der Langsamkeit

Arbeitgeber klagen über fachliche Defizite und mangelnde Reife. Man ist auch hier der schlechten Devise gefolgt, die Bildung als Ware, Menschen als Humankapital und Zeit als Geld definiert. Durch das Leben wird gefälligst nicht mehr flaniert, Um- und Irrwege sind verpönt. Auf diese begeben sich lediglich Faule, Dumme, Ziellose. Entwicklung ist nach dieser Devise nichts, der Zeitplan ist alles.

Nötig wäre etwas anderes: die Entdeckung der Langsamkeit, nicht im Sinne von Müßiggang, sondern von Gründlichkeit und Entfaltung. Die Idee, Schulen die Wahl zwischen acht und neun Jahren zu lassen, ist ein passabler Weg. Das G 8 hätte vielleicht eine Chance, wenn man den derzeitigen Unmut für einen großen Wurf nutzte - und Schulen endlich in Lern- und Lebensräume verwandelte, wenn man mit kluger Ganztagsbetreuung Freizeit und individuelle Förderung integrieren würde. Derzeit heißt Ganztagsbeschulung oft nur, dass mittags ein Imbisswagen aufkreuzt und nachmittags ein Fußball in die Runde geworfen wird. Ja, ein solcher Wurf wäre teuer. Aber im derzeitigen G 8 verkümmert zu vieles.

© SZ vom 31.07.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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