Süddeutsche Zeitung

Englisch an Grundschulen:Nur geschimpft wird auf Deutsch

  • Seit dem Schuljahr 2005/06 ist der Fremdsprachenunterricht an Grundschulen verpflichtend. Die meisten Kinder starten mit Englisch.
  • Zu Beginn gab es aus der Wissenschaft und von den Lehrern weiterführender Schulen viel Kritik am Englischunterricht.
  • Eine neue Studie zeigt jedoch: Viertklässler lernen gerne Englisch und können englische Texte in Wort und Schrift bereits gut erfassen.

Von Matthias Kohlmaier

Heute sind die Berufe dran. "This is a teacher", erklärt Nicole Sölch ihren Viertklässlern und deutet auf eines der Bilder an der Tafel. Später fragt die Lehrerin einer bayerischen Grundschule: "What do you want to be?" Vereinzelte Wortmeldungen der Schüler, einer will gar keinen der gezeigten Jobs ergreifen, sondern lieber "youtube filmmaker" werden.

Seit dem Schuljahr 2005/06 ist der Unterricht in einer Fremdsprache an Deutschlands Grundschulen verpflichtend. Vielerorts werden junge Schüler schon seit der Jahrtausendwende an Sprachen herangeführt. In grenznahen Gebieten wird teilweise die Sprache des Nachbarlandes gelehrt, etwa Französisch im Saarland. Das Gros der Grundschüler aber kommt zuerst mit Englisch in Kontakt, in den meisten Bundesländern zur dritten Klasse. Sechs Länder starten schon in der ersten Jahrgangsstufe, zum Beispiel Baden-Württemberg.

"Die Kinder sollen den Mund aufkriegen"

Der Unterricht soll "die Grundlage für den Erwerb von Mehrsprachigkeit und für lebenslanges Fremdsprachenlernen" legen, schreibt die Kultusministerkonferenz in ihrem aktuellsten Bericht zum Thema. Wegen dieses Anspruchs hat es in den vergangenen Jahren viel Kritik am Englischunterricht für die Kleinen gegeben: Gymnasiallehrer murrten, das bringe doch gar nichts; Forscher wiesen in Studien wahlweise nach, dass der Fremdsprachenunterricht viel zu früh oder viel zu spät beginne. Heinz-Peter Meidinger, Chef des Philologenverbands, bezeichnete 2009 die "überstürzte Einführung" dieses Fremdsprachenunterrichts als einen von vielen "verfehlten Reformschnellschüssen".

Seitdem jedoch hat sich viel getan. Gut die Hälfte der aktuellen Englischlehrer an Grundschulen hat das Fach tatsächlich studiert. In den Jahren zuvor hatten die meisten erst im Job eine Zusatzqualifikation erworben, um Englisch lehren zu dürfen. Heiner Böttger, Professor für Englisch-Didaktik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, sagt: "Wir sind in einer Zwischenphase, bereits in wenigen Jahren werden wir einen ganz neuen Standard haben." Dass die Schüler am Ende der vierten Klasse jetzt schon eine Menge mitgenommen haben, zeigt die BIG-Studie, die Böttger mit Kollegen erstellt hat. Die erst im September erscheinende Studie liegt der Süddeutschen Zeitung vor. Dafür wurden deutschlandweit 2000 Viertklässler zum Englischunterricht befragt, ihr Wissen wurde getestet.

Selbst in der Gruppe der Leistungsschwachen wollte der Großteil gern mehr Englisch lernen. Zudem bewiesen die Schüler, dass sie einfache Hörtexte gut erfassen können und in schriftlicher Form sogar einen noch größeren Teil verstehen. Daher sagen die Wissenschaftler, dass in Grundschulen "Mehrsprachigkeit ein reales Ziel sein kann und muss". Die guten Leistungen im Leseverstehen sind überraschend, da in den meisten Ländern das Schreiben kaum gelehrt wird. "Die Kinder sollen den Mund aufkriegen und ein Gefühl für die Sprache bekommen", sagt Lehrerin Sölch. In den zwei Stunden Englisch pro Woche unterrichtet sie ihre vierte Klasse daher einsprachig. Es dauert dann zwar eine Weile, bis sie den Berufswunsch "archaeologist" erklärt hat. Aber durch visuelle Unterstützung - Grabbewegungen mit den Händen - verstehen die Schüler dann doch, was gemeint ist.

An vielen Grundschulen gibt es auch Projekte, die über einsprachigen Englischunterricht hinausgehen. Andrea Micklitz ist Rektorin an der St.-Anna-Grundschule in Augsburg, dort werden seit 2007 in einer Klasse pro Stufe Kunst, Musik und Sport auf Englisch gelehrt. "Schüler aus den bilingualen Klassen gehen viel unverkrampfter mit der Sprache um", sagt sie. Die Fremdsprache werde für die Kinder zur "natürlichen Umgangssprache". Zum September beginnt in Bayern ein Schulversuch mit weiteren 20 Grundschulen, an denen für vier Jahre zweisprachig gelernt werden soll. Dass die Kinder durch die frühe Fremdsprache überfordert sein könnten, schließt Forscher Böttger aus. Schüler in dem Alter hätten eine "Entwicklungsdisposition für das Sprachenlernen", sie könnten problemlos mehrere Sprachen verarbeiten, "ohne dass etwas beschädigt wird". Kinder mit Migrationshintergrund hätten gegenüber Mitschülern sogar einen Vorteil - weil sie beim Deutschlernen bereits mit einer Fremdsprache konfrontiert gewesen und neuronal besser auf die Herausforderung des Englischen vorbereitet seien.

"Englischunterricht an Grundschulen muss Themen aus der Lebenswelt der Kinder abbilden", fordert Maresi Lassek, Vorsitzende des Grundschulverbandes. Ideal sei es, wenn ein Teil des Schulalltags auf Englisch ablaufen würde. Wissenschaftler Böttger sieht auch "keinen Grund, erst in der fünften Klasse zu fragen, warum die Spinne so und so viele Beine hat. Das lässt sich hervorragend im Englischunterricht in der Grundschule einbinden." Damit das gelingt, braucht es aufseiten der Lehrer sprachliche und didaktische Kompetenz. Auch wenn zuletzt eine Professionalisierung zu beobachten ist, gibt die BIG-Studie auch zu denken. Nur 29 Prozent der befragten Lehrkräfte bewerteten die eigene Englischkompetenz als sehr gut, ein Fünftel fand ihr Sprachvermögen mittelmäßig. Zudem beurteilten nur 73 Prozent der Lehrer den Englischunterricht als sehr wichtig. Dass mehr als ein Viertel der Befragten ihr Fach nicht essenziell findet, lässt für deren Unterricht nichts Gutes erahnen.

Ein Grund für die Bewertung könnte aber sein, dass Englisch in der Grundschule in den meisten Ländern nicht nur nicht benotet wird - das Fach ist vielerorts auch nicht übertrittsrelevant. Für die Motivation der Schüler ist das gerade in der vierten Klasse abträglich, sagt Lehrerin Sölch. Heiner Böttger hält das Vorgehen dennoch für richtig: "Das Spielerische und der Freiraum beim Lernen der Sprache sind wichtiger und würden durch Benotung untergraben." Nach wie vor wird im Unterricht etwa viel gesungen - die Kinder sollen Spaß mit der Sprache haben, sie beiläufig lernen.

Das ändert sich an den weiterführenden Schulen. Von Gymnasiallehrern gab es daher in den Anfängen viel Kritik am Englisch der Grundschulen. Teils aus Unwissen, worauf in den Primarstufen der Fokus gesetzt wird, teils wohl aus einer gewissen Überheblichkeit heraus. Helmut Egger unterrichtet seit 1984 Englisch an einem bayerischen Gymnasium, hat die Entwicklung lange beobachtet: "Es hat uns am Gymnasium weitergebracht, dass die Fünftklässler mit Grundkenntnissen im Englischen zu uns kommen." Seine Kollegen müssten sich jedoch auch mit dem beschäftigen, was Schülern im Englischunterricht in den Klassen drei und vier begegne. Wenn alltagsnahe Themen am Gymnasium aufgegriffen würden, könne man bei den Kindern "offene Türen einrennen".

Wie Forscher Böttger und Verbandschefin Lassek wünscht sich Egger, dass künftig möglichst alle Lehrer, die Grundschülern Englisch beibringen, das Fach an der Uni belegen. Nicole Sölch hat die Fremdsprache nicht studiert, ein mündlicher Test und ein Methodikkurs genügten. Für den Unterricht fühlt sie sich dennoch gut gerüstet. Manchmal spricht sie mit den Schülern trotzdem Deutsch - etwa, als sich zwei Schüler allzu auffällig über private Dinge unterhalten. Später sagt sie: "In dem Moment wollte ich ganz sichergehen, dass sie mich auf jeden Fall verstehen."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2570439
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 20.07.2015/mkoh
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.