Süddeutsche Zeitung

Franziska Giffey:Wikipedia statt Habermas

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In der Doktorarbeit der Familienministerin finden sich verdächtige Stellen: Mal wird falsch zitiert, mal gar nicht. Ihre  Universität  will ein Verfahren einleiten. Sie selbst spricht von "bestem Wissen und Gewissen"

Von Paul Munzinger und Roland Preuß, München

"Europas Weg zum Bürger" heißt das Werk, dem Franziska Giffey ihren Doktorgrad verdankt. In der Arbeit, die die SPD-Politikerin und heutige Bundesfamilienministerin am 30. Oktober 2009 beim Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin (FU) einreichte, geht es um die Frage, ob es der EU-Kommission gelingt, mehr Bürgernähe herzustellen. Giffey untersuchte dies am Beispiel von Neukölln, dem Berliner Stadtteil, dessen Bezirksbürgermeisterin sie sechs Jahre später werden sollte. Die Arbeit hat 266 Seiten. Auf Seite vier erklärt die Autorin, wie von der Promotionsordnung verlangt, dass sie "alle verwendeten Hilfsmittel und Hilfen angegeben und auf dieser Grundlage die vorliegende Arbeit selbständig verfasst" habe.

Genau daran gibt es nun Zweifel. Das Internetforum VroniPlag Wiki, auf der eine Reihe von Mitstreitern nach Plagiaten in wissenschaftlichen Arbeiten fahndet und so bereits mehrere Politiker um ihre Doktorwürde brachte, hat bislang auf 49 Seiten problematische Stellen identifiziert, wie zunächst das Magazin Der Spiegel berichtete; die Untersuchung dauert an. Das Bundesfamilienministerium bestätigte am Freitag der Süddeutschen Zeitung, dass Giffey die FU Berlin um eine Prüfung ihrer Arbeit gebeten habe. Die Universität müsse nun alles Weitere bewerten. Die FU teilte mit, sie werde der Bitte nachkommen und "in Kürze" ein entsprechendes Verfahren einleiten. Giffey ließ über ihre Pressestelle ausrichten, sie habe die Arbeit "nach bestem Wissen und Gewissen verfasst".

Einige Literaturstellen in der Arbeit belegen angeblich nicht, was sie belegen sollen

Anders als in früheren Fällen geht es bei Giffey allerdings nicht nur um den Vorwurf des Plagiats, sondern auch um den Verdacht, dass Belege für Aussagen in dem Text willkürlich gewählt sind, dass also die angegebenen Literaturstellen gar nicht untermauern, was sie untermauern sollen. Dies sei in "mindestens 68 Fällen" erkennbar, heißt es auf der Seite. Ein solches Vorgehen sei ein "gravierendes wissenschaftliches Fehlverhalten", sagte einer der federführenden VroniPlag-Akteure, Gerhard Dannemann, der SZ. "Das ist der Tod der wissenschaftlichen Arbeit." Der Juraprofessor Dannemann lehrt an der Berliner Humboldt-Universität. Er betonte allerdings, dass diese Vorwürfe bisher nur auf der Arbeit eines VroniPlag-Mitstreiters beruhten; die übliche Prüfung durch weitere Mitarbeiter stehe noch aus. "Das ist zeitaufwendig." Der Verdacht gegen Giffey sei trotz Anonymisierung öffentlich geworden, bevor die "Qualitätskontrolle" habe beendet werden können, sagte Dannemann. Auf dem Forum werden die Verdachtsfälle öffentlich seziert, auch anonymisierte Autoren lassen sich so über Textpassagen ihren Werken zuordnen.

VroniPlag Wiki entstand 2011 i n der Folge der Enthüllungen über die Dissertation des damaligen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg. Dem CSU-Politiker wurde der Doktorgrad damals aberkannt, wenig später trat er als Minister zurück. Infolge der Recherchen auf VroniPlag verloren auch andere Politiker wie Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) zunächst ihren akademischen Grad und dann auch ihr Amt. Der letzte Fall ist erst wenige Tage alt: Am 4. Februar entzog die FU dem Berliner CDU-Bundestagsabgeordneten Frank Steffel seinen Doktorgrad.

Den auf der Plattform VroniPlag Wiki aktiven Menschen, die meist anonym bleiben, geht es nach eigenen Angaben darum, wissenschaftliches Fehlverhalten offenzulegen und so der Qualitätssicherung zu dienen. Durch akribische Textvergleiche suchen sie in akademischen Arbeiten nach Stellen, in denen die Autoren sich die Gedanken anderer wörtlich oder sinngemäß zu eigen machen, ohne dies wie vorgeschrieben zu kennzeichnen.

Im Fall von Franziska Giffey, deren Arbeit auf VroniPlag ohne Namensnennung untersucht wird, geht es zum Beispiel um Seite 66. Dort beschäftigt sich die Autorin mit dem sogenannten "deliberativen Demokratiemodell" und verweist unter anderem auf das 1992 erschienene Buch "Faktizität und Geltung" von Jürgen Habermas. Laut VroniPlag finden sich mehrere von Giffey verwendete Formulierungen jedoch nicht bei Habermas, sondern bei Wikipedia - das als Quelle jedoch nicht genannt ist. Von Wikipedia habe Giffey auch einen Fehler im Untertitel von Habermas' Buch übernommen. Unerwähnt bleibt laut VroniPlag auch ein Bericht des Ausschusses für Kultur und Bildung des Europäischen Parlaments von 2005, obwohl diesem knapp eine halbe Seite zum Teil wörtlich entnommen sei.

Die deutschen Hochschulen hatten bei Plagiatsverdachtsfällen in den vergangenen Jahren unterschiedlich strenge Maßstäbe angelegt. Manchmal wurde der Doktorgrad aberkannt, in anderen, durchaus vergleichbaren Fällen, kamen die Überprüften mit dem Urteil davon, "geschlampt" zu haben. Grundsätzlich reichen bereits wenige plagiierte Passagen auf Hunderten Seiten, um den Doktorgrad zu verlieren.

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SZ vom 09.02.2019
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