Süddeutsche Zeitung

Förderung:Nachhilfe gegen Zimmer

Junge Paten helfen Duisburger Kindern beim Lernen - und dürfen dafür gratis in einer WG wohnen: Ein Modell im Duisburger Problemviertel Marxloh.

Von Laura Díaz

Es ist Mittagszeit, Nudeln mit grünem Pesto stehen auf den Tisch. "Essen ist fertig", ruft Lena Wiewell durch die Wohnung. Die 30-Jährige hat für ihre Mitbewohner gekocht. "Wir sind im Grunde eine ganze normale WG", sagt sie. Doch es gibt eine Besonderheit: Alle sechs WG-Bewohner wohnen hier umsonst. Im Gegenzug geben sie vier Tage die Woche nachmittags in einer ehemaligen Kaplanswohnung benachteiligten Kindern in Duisburg-Marxloh Nachhilfe. Wiewell und ihre Mitbewohner sind Bildungspaten.

Anfang des Jahres ist das Pilotprojekt "Tausche Bildung für Wohnen" gestartet. 2011 kam den Vereinsgründern Christine Bleks, 34, und Mustafa Tazeoğlu, 32, die Idee. Duisburg-Marxloh gilt als Problemviertel, jeder zweite Einwohner hier kommt aus Zuwandererfamilien und ist entweder arbeitslos oder lebt von Transferleistungen. Wie kann man hier Bildungsaufstiege erreichen, wie den Menschen eine Perspektive geben? Und wie kann man solche Hilfe finanzieren? Durch Spenden, Preisgelder und zwei Kredite konnten die Initiatoren zumindest die Anfangsphase ermöglichen. Dauerhaft soll sich das Projekt größtenteils durch das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung finanzieren, das Zuschüsse für Freizeitaktivitäten und Nachhilfeunterricht vorsieht.

Bislang machen etwa zwanzig Kinder im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren mit, künftig sollen es bis zu 80 Kinder sein. "Wir merken schon nach den ersten Wochen, dass unsere Nachhilfe hier sehr gut ankommt, wir sind total überwältigt von den Reaktionen der Schüler", sagt Lena Wiewell. Sie hat in Lübeck Architektur studiert und absolviert zurzeit, wie drei ihrer Mitbewohner auch, ein soziales Jahr. Zwei weitere WG-Paten studieren noch und arbeiten daher nur an zwei Tagen die Woche.

Als Pate konnte sich jeder Interessent bewerben. Einzige Voraussetzung: Motivation und die Bereitschaft, sich auf ein soziales Pilotprojekt einzulassen. Zwölf Monate sollen die Paten zunächst bleiben. Man wolle diesen Kindern hier "etwas Gutes" mitgeben, sagt Bildungspatin Maxi Boden. Sie betreut die zwölfjährige Zelal Narin, eines ihrer vier Patenkinder. Zelal ist heute wegen Mathe-Nachhilfe in die sogenannte Tauschbar gekommen, morgen steht eine wichtige Klassenarbeit an. Zusammen mit der Patin werden die Hausaufgaben besprochen. "Manchmal machen wir auch Deutsch oder Englisch", erzählt die Sechstklässlerin einer Gesamtschule. Sie hat, wie die meisten Kinder hier, über die Schule von der neuen Anlaufstelle erfahren. Samstags locken sie die Freizeitaktivitäten: Mal gehen die Paten mit den Kindern ins Schwimmbad oder auf den Fußballplatz. Auch Zelals kleine Schwester schaut regelmäßig vorbei.

In verschiedenen Workshops und Schulungen wurden die Paten zuvor intensiv auf die Arbeit mit den Kindern vorbereitet. Zur Ausbildung gehört unter anderem ein Erste-Hilfe-Kurs, die Auseinandersetzung mit der türkischen Kultur, mit Allergien und sexueller Gewalt. "Hier arbeiten ja keine ausgebildeten Pädagogen, daher sind regelmäßige Gespräche, Vorbereitungen und die Betreuung der Paten extrem wichtig", sagt Tazeoğlu.

Die meisten der kleinen Besucher stammen aus türkischstämmigen Familien, viele Eltern sind arbeitslos. "Manche Schüler kommen aus sehr schwierigen Verhältnissen. Die Mutter ist zum Beispiel alkoholkrank, kümmert sich kaum um die Kinder, die holen wir dann auch mit dem Auto ab, damit sie hierherkommen können", sagt der türkischstämmige Mustafa Tazeoğlu, der selbst im Stadtteil geboren und aufgewachsen ist. Nur durch "pures Glück" habe er den Sprung auf die Universität geschafft.

Mit dem Projekt will der 32-Jährige seinem Viertel etwas zurückgeben, auch seine 22-jährige Schwester Kübra arbeitet neben dem Studium als Patin. "Es ist für alle eine Win-win-Situation, die benachteiligten Kinder bekommen eine intensive Hausaufgaben- und Freizeitbetreuung, junge, gebildete Menschen wohnen dafür kostenfrei und beleben damit wiederum den Stadtteil, das sorgt für eine soziale Durchmischung."

Soweit die Theorie. An das sozialschwache, multikulturelle Marxloh muss sich die junge WG in der Praxis noch gewöhnen. "Wir deutschen Kartoffeln sind hier halt Ausländer", sagt Lena Wiewell und lacht. Jugendliche, die auf der Straße rumhängen, prägen das Stadtbild. "Es passiert einem hier eigentlich nichts, wenn man es nicht provoziert", sagt Wiewell. Im Winter abends alleine joggen zu gehen traut sich die passionierte Sportlerin aber nicht. Die Gründer Bleks und Tazeoğlu planen langfristig "Tausche Bildung gegen Wohnen" zu einem Social-Franchise-Modell zu etablieren. Das heißt, auch andere Träger können das Konzept in ihre Stadtteile übertragen. In Berlin und München gibt es bereits Interesse.

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Quelle:
SZ vom 11.05.2015
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