Flüchtlingsdebatte:"Integrieren heißt erneuern"

Forschung und Hochschulen mögen sich über Inhalte oder Qualität definieren - aber niemals über Herkunft. Diese Vielfalt kann jetzt in der Flüchtlingsdebatte durchaus Vorbild für die Gesellschaft sein.

Von Matthias Kleiner

Als ich vor einigen Jahren in Edmonton, Kanada, einmal wieder zu Besuch an der University of Alberta war und mich mit der Präsidentin Indira Samarasekera über Internationalisierung, Zuwanderung und Integration unterhielt, erzählte sie mir von einem Shopping-Nachmittag mit ihren Kindern. Ihr war eine junge Frau aufgefallen, und sie fragte ihre Kinder: "Habt ihr die Asiatin mit dem verrückten Kleid gesehen?" Daran entzündete sich prompt ein kleines Wortgefecht, denn die Kinder schworen Stein auf Bein nur eine "besonders gekleidete Kanadierin" gesehen zu haben. Wann also ist Integration gelungen? Wenn Vielfalt Alltag wird.

800 000 Flüchtlinge sind binnen kürzester Zeit nach Deutschland gekommen. Vielleicht mehr. Das entspricht der Größenordnung einer Stadt wie Frankfurt. Niemand mehr ist nicht betroffen, alle sind gefragt. Behörden, Institutionen, Vereine, Helfer, Bürgerinnen und Bürger. Alle packen an, Menschen willkommen zu heißen, die geflohen sind vor Krieg, Krisen oder Katastrophen. Und alle fragen sich: Wie geht es weiter? Während die öffentliche Stimmung zu kippen droht und die Politik über begrenzte Zuwanderung diskutiert, steht die drängende Frage im Raum: Wie können aus den Gästen möglichst bald Ankommende werden, Nachbarn, Freunde, Partner, Kolleginnen und Kollegen?

In Anbetracht des demografischen Wandels weiß die Wirtschaft, dass davon das Fortkommen des Landes entscheidend abhängen wird. Doch Flüchtlinge sind nicht nur Arbeitskräfte, sie sind vor allem Botschafter einer anderen Kultur, die unsere bereichern kann. Davon lebt gerade die Wissenschaft: verschiedene Positionen, Herangehensweisen, Methoden und Sprachen - allein der Diskurs darüber macht sie innovativ. Lösungen auf komplexe Forschungsfragen werden eben nur gefunden, wenn komplex gedacht wird. Dazu schließen sich Personen und ihre Projekte weit über kulturelle Grenzen hinweg zusammen. Das ist die Idee von Wissenschaft, so entstanden die ersten Universitäten in Bologna und Paris - und dieser Grundgedanke kann nun, in der Flüchtlingsdebatte, auch ein Vorbild sein.

Humanoid robots are seen at the University of Bonn in Bonn

Gemeinsam am Ball, Nationalität egal: die Roboter-Fußballer von jungen Computer-Tüftlern der Universität Bonn in Trikots verschiedener Länder.

(Foto: Ina Fassbender/Reuters)

Als 1989 die Mauer fiel, wurde der deutschen Wissenschaft in beiden Teilen die Isolierung attestiert. Mit der Wiedervereinigung kam schnell der Ruf nach mehr Internationalität auf. Zumindest in Europa wünschte man sich Mobilität in der Wissenschaft, aber auch unter Studierenden. Die Internationalisierung war eine entscheidende Triebfeder der Studienreform. Die neuen Abschlüsse Bachelor und Master, die Abschaffung von Scheinen und die Einführung von credit points - all das sollte im Studium helfen, eine Vergleichbarkeit der Leistungen herzustellen und den Austausch zu erleichtern. Ähnliche Ziele verfolgten etwa auch die Debatten über die Einführung der Juniorprofessur oder die Etablierung eines Tenure Tracks (ein Karrieresystem, meist mit Assistenz-Professuren am Anfang). Damit hoffte man nicht zuletzt die anhaltende Abwanderung zu den Forschungsstätten im Ausland aufzuhalten. Gerade jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erschienen die Rahmenbedingungen in den USA oder England häufig attraktiver.

Den größten Schub brachte dem Wissenschaftssystem zweifellos die Exzellenzinitiative von Bund und Ländern. Sie verhalf der Spitzenforschung hierzulande zu großer Aufmerksamkeit und ließ Universitäten wie außeruniversitäre Forschungseinrichtungen zu einem Magneten für Studierende, Postdoktoranden, Professorinnen und Professoren werden. Während der Ausländeranteil im Land insgesamt von 8,9 Prozent 1998 auf 9,3 Prozent 2014 stieg, nahm die Zahl ausländischer Mitarbeiter an Hochschulen seit 2006 um 74 Prozent zu. Sie umfasst heute laut Deutschem Akademischen Austauschdienst zehn Prozent des Personals. Ähnliches bei den ausländischen Studierenden: Zurzeit sind es knapp zwölf Prozent der Eingeschriebenen, absolut gesehen 300 000 - was, so das Bundesforschungsministerium, einer Verdoppelung seit 1996 entspricht.

Noch besser sieht die Entwicklung in den Forschungsorganisationen aus. Die Leibniz-Gemeinschaft etwa zählt heute knapp 20 Prozent ausländische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Max-Planck-Gesellschaft sogar 31 Prozent. Mit Integrationserfolgen: Aus "Gästen" werden häufig Bleibende. Und fast 70 Prozent der promovierten ausländischen Kräfte wollen hier langfristig Fuß fassen; nicht zuletzt: 64 Prozent der Promovierenden empfehlen ihren Freunden und Kollegen eine Promotion in Deutschland.

Die Wissenschaft und ihre Institutionen sind heute darin geübt, internationales Publikum aufzunehmen; und sie ist daran dezidiert interessiert. Wir tun vieles, um junge Menschen und fortgeschrittene Forscherinnen und Forscher für ein Gespräch, einen Austausch, einen Aufenthalt, eine Gastprofessur oder am besten gleich für eine Dauerstelle zu gewinnen. So ist es bei Leibniz heute selbstverständlich, dass ein Wirtschaftsinstitut von einem US-Amerikaner angeführt wird, die Geschäftsführung eines Instituts mit in den Händen einer Spanierin liegt, eine Gruppenleiterin für Neurobiologie aus der Türkei kommt oder eine Inderin als Postdoktorandin in einer Abteilung für Bioverfahrenstechnik arbeitet.

Zuzug als große Chance: "Ohne Veränderung gibt es keinen Diskurs, keine Entwicklung."

Wir tun jetzt auch vieles, um Flüchtlinge willkommen zu heißen. So werden in den Forschungseinrichtungen Sprachtandems etabliert und etwa Praktikumsplätze geschaffen. Es wird geforscht über Migration vor dem Hintergrund verschiedener Kontexte - Bildung, Arbeitsmarkt, Ökonomie, historisch und politisch. Es wird geforscht, um Zusammenhänge zu verstehen und daraus bestmöglich zu erkennen, was jetzt wichtig ist zu tun. Damit die Gesellschaft offen ist für die Vielfalt, die sie braucht, um innovativ, vor allem aber um selbst entwicklungsfähig zu bleiben.

Das deutsche Wissenschaftssystem ist heute international wieder attraktiver. Wir sind auf gutem Weg, aber noch lange nicht an dessen Ende angekommen. Die Minister von Bund und Ländern haben daher 2013 eine Strategie zur Internationalisierung einschließlich neuer Zielvorgaben beschlossen. Denn Hürden gibt es weiterhin, ob bei der Aufenthaltsgenehmigung, Behördengängen, der Wohnungs- und Jobsuche oder beim Erlernen der Sprache. Integration braucht Ziele, aber auch Zeit, um sie zu erreichen. Integrieren heißt erneuern, heißt, sich zu verändern. Ohne Veränderung gibt es keinen Diskurs, keine Entwicklung. Mit diesem Selbstverständnis kann die Idee von Wissenschaft durchaus ein Beispiel sein. Das Wir in der Wissenschaft mag sich über Inhalte und Qualität konstituieren, aber es definiert sich niemals anhand von Herkunft. Warum sollte nicht auch die ganze Gesellschaft in Europa und Deutschland auf ein vielfältiges, herkunftsfreies Wir setzen?

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