Flüchtlinge:Integration ist Gruppenarbeit

Einschulung von Flüchtlingen in Vorbereitungsklassen

Deutschlernen ist ein erster Schritt - in der Schule und auch mit Hilfe der Dorfgemeinschaft.

(Foto: Wolfram Kastl/dpa)

Großstädte tun sich mit der Integration von Flüchtlingen schwer, wie geht es da erst kleinen Gemeinden in der Provinz? Ein Blick in den bayerischen Odenwald, der Mut macht.

Reportage von Joachim Käppner

In Bamiyan sind die Konturen scharf: das flirrende Licht der Wüste, karge Berge über grünen Feldern, kubische Lehmhäuser, das gurgelnde grüne Wasser der Kanäle. Im Nebel und Eisregen über Kirchzell verschwimmen Ziegeldächer, der Sandstein der Herz-Jesu-Kirche und der Wald beinahe zu einzigem Bräunlichgrau. Es ist sehr kalt, und wer bis vor Kurzem in Bamiyan gelebt hat, ist froh, die Heizung voll aufdrehen zu können. Seit wenigen Wochen sind sie nun hier: zwei Familien aus Afghanistan, zwei aus der Ukraine, 15 Flüchtlinge insgesamt im tiefen Odenwald. "Allah hat uns beschützt und heil hierher gebracht. Hier wird es gut sein", sagt die afghanische Großmutter Schahebonu, 76 Jahre alt.

Ihr Enkel Ali ist nun ebenfalls in Sicherheit. Aber noch ist nicht alles gut. Er hat ein neues Problem, winzig zwar im Vergleich zur Flüchtlingskrise, gewaltig aber für ihn. Weil es in der Region Bamiyan Anschläge auf Schulkinder gab und die Not groß war, ist Ali selten zur Schule gegangen, wie so viele afghanische Kinder. Sein Bildungsniveau ist das eines Zweitklässlers.

Nichts Ungewöhnliches: Lehrer aus Flüchtlingsklassen berichten von einer enormen Bandbreite an Voraussetzungen - von Analphabeten, die bisher nur Schafe gehütet haben, bis hin zu früheren Gymnasiasten, die mehrere Fremdsprachen sprechen. Ali, 16 Jahre alt, ein gut aussehender, wacher Junge, steht in einem kargen, überheizten Raum. Er hat fleißig das Schreiben geübt. Mama, Papa. Tante. Oma, Opa. Auf Dari (Farsi). Das wird nicht reichen für die Berufsschule, auf der ihn das Landkreisamt unterbringen wollte. Der Junge hat Tränen in den Augen. Wie soll er Deutsch lernen, wenn er in seiner eigenen Sprache kaum lesen und schreiben kann? "Sei stark", sagt Flüchtlingsbetreuer Wolfgang Härtel von der Caritas Miltenberg, "wir finden etwas für dich, versprochen." Ali wird einen Alphabetisierungskurs besuchen müssen, bevor irgend etwas anderes geht. Aber es gibt keine solchen Kurse in der Gegend. Härtel will nun dafür sorgen, dass sich das ändert.

Bildung als Schlüssel der Integration, wie es so gern heißt? Kein Selbstläufer. Legt man die bisherige Altersstruktur von Asylbewerbern zugrunde, dürften im vergangenen Jahr gut 250 000 schulpflichtige Flüchtlinge gekommen sein; darüber hinaus sind Angebote für ältere Jugendliche und junge Erwachsene gefragt, Stoff nachholen, Zugänge in Ausbildung schaffen. Zwar investiert die Politik allerorten in Vorbereitungsklassen, das Management der Bildung aber stemmen in der Regel die Kommunen. Einen Masterplan gibt es ohnehin nicht. Da kommt es auf Individualität an, nicht nur, weil die Ausgangslage variiert: während es in Städten oft seit Jahrzehnten Erfahrungen mit Asylbewerbern oder Spätaussiedlern gibt und Bildungsstrukturen dafür, ist das Thema in der Provinz häufig neu.

Die Fremden sind da - und niemand meckert

Jeden da abzuholen, wo er steht - wohl gelingt das aber gerade dort gut, wo die Gemeinschaft heil ist. Kirchzell, 2500 Einwohner in mehreren über die Waldhöhen verstreuten Ortsteilen, Landkreis Miltenberg im Nordwestzipfel Bayerns. Es gibt viele Pendler, nur noch wenige Bauern, den einen oder anderen hübschen Dorfladen - der im Ort Kirchzell hat eine Allzweckwaage, Baujahr 1930. An schönen Tagen streift der Blick weit über Bäume, Obstgärten und tiefe Täler; mancherorts, wie in Preunschen, prägen Fachwerk und Höfe das Bild, andernorts sind es Neubausiedlungen von bescheidenem Wohlstand. 13 Mal am Tag fährt ein Bus von Kirchzell hinunter nach Amorbach, fünf Kilometer entfernt. Hier kann man umsteigen in die Kreisstadt Miltenberg am Main, einen der schönsten alten Orte Deutschlands, selbst tiefe Provinz und doch von Kirchzell aus schon fast die weite Welt.

Bürgermeister Stefan Schwab ist von der CSU, bis vor wenigen Monaten hat er sich vor allem mit Beleuchtung und Verbreiterung der Durchgangsstraße beschäftigt, der, leider, das verlassene Gasthaus "Zum weißen Roß" neben der Kirche weichen muss. Aber in dem an einem Montagabend randvoll besetzten Pfarrsaal diskutiert er vor fast 100 Menschen jene Frage, die man in Kirchzell bis dahin nur aus dem Fernsehen kannte oder aus dem Boten vom Untermain: Die Fremden sind da.

"Ich kenne hier keinen, der Stimmung gegen Ausländer machen würde"

Nach dem komplexen Königssteiner Verteilungsschlüssel hatte der Landkreis im Februar pro Woche 28 Flüchtlinge aufzunehmen, Tendenz steigend. Die Gemeinschaftsunterkünfte sind voll, die Randgemeinden müssen mitmachen - und daher, sagt Bürgermeister Stefan Schwab, "betreten wir alle zusammen wirkliches Neuland". Den ganzen Abend über wird er kein einziges Mal Worte wie "Überforderung" aussprechen. Niemand im Saal tut das, kein einziger steht auf und wettert, dass nun die Flüchtlinge im Ort wohnen. Keiner sagt: Wir sind das Volk. Aber das sind sie, jeder auf seine Weise.

Kirchzell, hier am äußersten Rand Bayerns, ist konservatives Herzland. Im Gemeinderat Kirchzell hat die SPD ganze drei Sitze, zwölf gehen an CSU und Freie Wähler. Aber die große Politik, Grüne gegen Schwarze, Seehofer gegen Merkel, ist für die Kirchzeller an diesem Abend so weit weg wie der Berliner Reichstag. Stattdessen: ruhiger Pragmatismus. Niemand ist begeistert, dass Deutschland so viele Flüchtlinge aufnimmt und der Rest der EU so wenige. Man kann die Welt nicht ändern, aber sie besser machen, und sei es nur ein winziges Stück. Als Großmutter Schahebonu vor dem Haus einen Schwächeanfall erlitt und umkippte, fuhren Passanten sie spontan zum Arzt; und der hat sie behandelt, obwohl ihre Krankenversicherung noch ungeklärt war.

Eine Säule der Integration ist die Schule. "Wir haben hier eine gute Dorfgemeinschaft", sagt Christiana Siegner, Rektorin der Kirchzeller Grundschule, "das macht vieles leichter." Im Pfarrsaal melden sich gleich 19 Kirchzeller spontan zum Helferkreis für die Flüchtlinge, wollen sich kümmern, etwa um die Integration der "Kinnägaddnkinnä", wie Schwab in der freundlichen Melodie hiesiger Mundart sagt.

Fußball geht immer

Auch Wolfgang Härtel von der Caritas ist überrascht von der positiven Resonanz an dem Abend; aber so überrascht nun auch nicht. "Ich kenne hier keinen, der Stimmung gegen Ausländer machen würde." Härtel ist schon viele Jahre in der Flüchtlingsarbeit, und er kann sich an die anonymen Schmähschreiben erinnern, die 1992 auf seinem Schreibtisch lagen, damals, als die Bosnien-Flüchtlinge kamen: "Diesmal gibt es fast nichts dergleichen." Er ist ein wenig stolz auf die Kirchzeller. Das Geheimnis sei, sagt er, "dass alle an einem Strang ziehen: Bürgermeister, Pfarrer, Schule, Gemeinde. So wird die Aufnahme der Flüchtlinge zur Gemeinschaftsaufgabe."

Und die Bildung. Am Morgen hat ein Schüler aus Kirchzell den 14-jährigen Afghanen Abulafas abgeholt und mit zur Mittelschule in Amorbach genommen; noch können sie sich kaum verständigen. Aber am Nachmittag kickte er schon mit den Jungs aus der Klasse auf dem Fußballplatz. Abulafas, seine zwei Geschwister und die Eltern, die zweite afghanische Familie im Ort, blicken zurück auf eine wochenlange Flucht, sie hat mehr als 10 000 Euro gekostet und war gefährlich; schaukelnde Schlauchboote in der Ägäis, zweilichtige Schleuser, die Balkanroute. Und nun der Odenwald.

Die andere afghanische Familie ist nur drei Köpfe stark, Großmutter Schahebonu, Mutter Gol Tschamar und Ali, 16 Jahre alt. Der Vater, berichten sie, sei an der iranischen Grenze von bewaffneten Männern gepackt und mitgenommen worden, sie wissen nicht, von wem und wo er ist.

Es wird wohl kein Zurück geben für die Familien aus Afghanistan

Beide Familien sind Hazara, persischsprachige Schiiten mongolischer Herkunft; von den sunnitischen Fanatikern der Taliban, die mehrheitlich zu den Paschtunen gehören, haben die Hazara wenig Gutes zu erwarten. "Bei uns im Bamiyan-Tal haben sie immer so gemacht, wenn sie uns sahen", erzählt die Großmutter und fährt sich mit der Hand über die Kehle. Es gab bis zur Invasion der Amerikaner 2001 wechselseitige Massaker; der Hass ist geblieben und auch die Diskriminierung der Hazara; der bekannte Roman "Der Drachenläufer" von Khaled Husseini handelt davon. In Abulafas' Region haben Unbekannte zehn Hazara die Köpfe abgeschnitten, berichtet sein Vater. Die Geschichten sind schwer nachprüfbar; aber sie fügen sich ein in das große Mosaik eines Afghanistan, das keineswegs so stabil ist, wie es der deutsche Innenminister gern hätte, um nicht noch mehr Menschen von dort aufnehmen zu müssen. Als die Nato, auch die Bundeswehr, Ende 2014 ihre Kampftruppen abzog, hat sich die Sicherheitslage noch einmal deutlich verschlechtert.

Es wird wohl kein Zurück geben für die Kirchzeller Familien aus Afghanistan. Ihre Integration vollzieht sich in vielen kleinen Schritten, und mancher von ihnen ist schwer. "Die Kinder tun sich oft leichter", sagt Härtel, "sie lernen in Schule und Kita unglaublich schnell die Sprache."

Wer aber offiziell Asyl bekommt, unterliegt nicht mehr der Residenzpflicht. Viele Flüchtlinge drängen in die großen Städte, Afghanen besonders nach Frankfurt. Aber die beiden Familien sind nun in der Provinz, wie sie tiefer kaum sein könnte. Sollten sie als Asylberechtigte anerkannt werden, müssten sie bald umziehen und sich selbst etwas suchen - das Haus dient der Erstaufnahme. Die Sammelunterkünfte sind übervoll, der Kreis sucht dringend nach Vermietern für neue Räume. In Kirchzell hat sich ein Schichtarbeiter mit deutschem Pass und türkischen Wurzeln bereitgefunden. "Ich wollte dem Land etwas zurückgeben", sagt er.

Natürlich, der Kreis zahlt mehr Miete als ein Privatmann das hier draußen tun würde. Aber um große Summen geht es nicht, und der Besitzer muss investieren, umbauen, das Risiko tragen. Anders als 1992 akzeptieren die Behörden nicht mehr jede Bruchbude, sie verlangen Mindeststandards. Das meiste hat er mit Kumpels und Kollegen in Eigenarbeit gestemmt, bis das Haus in ordentlichem Zustand war. Seriösen Leuten wie diesem Metallarbeiter sei man dankbar, sagt Härtel, "wir suchen dringend Unterkünfte, aber mit Abzockern lassen wir uns nicht ein." Der Kreis hat eigens Familien mit Kindern aufgenommen, um die Akzeptanz zu erhöhen.

Fatima aus der größeren afghanischen Familie geht seit wenigen Tagen auf die Kirchzeller Grundschule, ein helles, offenes Gebäude am Hang. Drei Ausländerkinder sind jetzt hier, die kein Deutsch sprechen. Christiana Siegner hat mit der Ethikgruppe der Schule Muffins gebacken und verkauft, so kam Geld herein für Stifte und Hefte. Sie hat erklärt, was es mit den Neuen auf sich hat. Und sie dachte sich: "Was haben wir für wahnsinnig nette Kinder", als diese anderntags Mäppchen und Büchertaschen mitbrachten, die sie zu Hause nicht mehr brauchen. "Wir kriegen das hin", sagt die Rektorin.

Immer wieder hört man bei Bildungspraktikern genau den Ansatz: Einfach machen! Mehr Lehrer, Sozialpädagogen, Dolmetscher sind nötig, klar. Aber gelingen kann das alles. Er wolle Probleme nicht klein reden, "aber im Praktischen löst sich vieles schnell auf", hat Baden-Württembergs Schulminister und Vize-Chef der Kultusministerkonferenz, Andreas Stoch, mal treffend gesagt.

Siehe Kirchzell. Fatima und den beiden anderen Kindern wird die Rektorin nun Deutsch beibringen, wenn die anderen Dinge lernen, welche die drei noch nicht verstehen können. Sogar die erste Faschingsparty haben die Neuen erlebt und offenbar viel Spaß gehabt. Fatima kommt mit leuchtenden Augen heim. Ihre Zukunft hat begonnen.

Mitarbeit: Johann Osel

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: