Mathematikunterricht:Wurzeln ziehen, nicht Karotten

Johannes Lell in der Parzivalschule in München, 2011

Manchen Studenten fehlen sogar mathematische Grundlagen aus der Mittelstufe, bemängeln die Autoren. Hier führt ein Lehrer der Parzivalschule in München seine Schüler in die Winkelberechnung ein.

(Foto: Robert Haas)

Nicht für jede Rechnung gibt es ein Beispiel aus dem Supermarkt. Drei Mathe-Experten fordern mehr trockenen Grundlagenunterricht.

Gastbeitrag von Markus Spindler, Dieter Remus und Hans Peter Klein

Der Mathematikunterricht soll heute weniger Wissen, dafür mehr Kompetenzen zur Lösung realer Probleme vermitteln. Wohin führt das in der Schule? Ein Beispiel: Ein Referendar ließ einen Grundkurs die Öffnungszeit eines Supermarktes ausrechnen - die richtete sich nach einer ganzrationalen Funktion dritten Grades. Eine Nullstelle war dann der Startwert.

Frage an den Ausbildungslehrer: Ob er, wenn seine Frau zu Hause ruft, "Schatz, wann macht noch mal der Supermarkt auf?", auch antworte "Moment, ich rechne eben schnell eine Nullstelle einer Funktion dritten Grades aus!"? Darauf der Ausbildungslehrer: "Das muss der Referendar so machen. Wenn er nicht kompetenzorientiert unterrichtet, fällt er durch." Die Schüler amüsieren sich köstlich über solche Realsatiren, rechnen aber brav alles aus. Im Abitur will man ja glänzen.

Viele Schulpraktiker begrüßten anfangs die Idee, im Unterricht nicht nur innermathematisches Wissen abzufragen, sondern die Anwendung hervorzuheben. Schließlich gab es schon in den 80ern Klagen: Schüler könnten zwar in der Analysis vollständige Funktionsuntersuchungen durchführen, von Logarithmus- und Exponentialfunktionen etwa, oder von ganz- und gebrochen-rationalen Funktionen. Aber ihr Wissen im Physik-Leistungskurs auf ein gekoppeltes Pendel oder die Maxwell-Gleichungen anwenden, das könnten sie keinesfalls. Da war etwas dran.

Was ist aus der Idee, die Kompetenzen zu stärken, geworden? Kurz gesagt: Vor 30 Jahren hatten viele Abiturienten noch relativ hohe mathematische Fähigkeiten, die sie leider oft nicht praktisch anwenden konnten. Heute haben viele Abiturienten geringe mathematische Fähigkeiten, die sie erst recht nicht anwenden können. Denn die pseudopraktischen Beispiele, die sie zu lösen gelernt haben, gibt es in der realen Welt so nicht.

Lehrer lernen mehr Didaktik als Potenzrechnung

Und selbst den jungen Lehrerkollegen fehlt es an Know-how, da die Universitäten die Fachinhalte zugunsten von Pädagogik und Fachdidaktik reduziert haben. Aber was nützt die beste Methode, wenn man die Inhalte nicht kennt, die man damit unterrichten soll? Der Unterricht ist also keinesfalls besser geworden.

Die Kritik wird immer lauter. Zahlreiche Lehrer und Mathematiker an Hochschulen beklagen eine zunehmende Studierunfähigkeit unter Abiturienten. Sie betrifft die Mathematik selbst und die Fachbereiche, in denen mathematische Grundlagen vorausgesetzt werden. Dieses Wissen müssen die Hochschulen den Abiturienten immer öfter in Brückenkursen vermitteln.

Guter Matheunterricht braucht Grundlagen

Neben Kenntnissen in der Oberstufenmathematik fehlen Inhalte der mittleren Jahrgangsstufen, teilweise sogar elementarste Arithmetik. Deshalb haben 130 Fachmathematiker und Lehrer (unter ihnen die Verfasser dieses Beitrags) im März in einem offenen Brief an Bildungspolitiker gefordert, der Bruch-, Potenz- und Wurzelrechnung, den binomischen Formeln, Logarithmen und Termumformungen sowie der Elementargeometrie in den Lehrplänen wieder mehr Bedeutung zu geben.

Nur so lässt sich korrigieren, was seit Einführung des kompetenzorientierten Mathematikunterrichts schiefgelaufen ist: Von den Funktionen, die Schüler früher beherrschten, sind nahezu ausschließlich ganzrationale Funktionen und Exponentialfunktionen übrig geblieben. Das entspricht einer Reduzierung um weit mehr als 50 Prozent, da zugleich fast alle möglichen anspruchsvollen Verkettungen entfallen. In der Integralrechnung wurden die Standards weit heruntergefahren, die Berechnung mit numerischen Verfahren ist fast ganz verschwunden, obwohl in einigen Bundesländern grafikfähige Taschenrechner im Unterricht verpflichtend sind.

Eine der wichtigsten Fähigkeiten, die Schüler im kompetenzorientierten Mathematikunterricht erwerben sollen, ist die Modellierungskompetenz. Man könnte also den inneren Wert eines Optionsscheins für Termingeschäfte an der Börse modellieren lassen und fragen, ob eine logistische Wachstumsgleichung dafür geeignet ist. Nach den Beschreibungen in den Kompetenzerwartungen müssten das alle leisten können - wenn dem so wäre, hätte die Kompetenzorientierung eine Sternstunde nach der anderen erlebt! In Wahrheit schaffen so etwas gerade mal eine Handvoll Masterstudenten nach fünf Studienjahren.

Die Schüler modellieren mitnichten irgendetwas selbst. Sie bekommen vormodellierte Probleme vorgesetzt, die sie auf die immer gleiche Art lösen sollen. Nahezu alle funktionalen Zusammenhänge in Wirtschaft, Gesellschaft und Natur werden in den Abituraufgaben der kompetenzorientierten Reifeprüfungen mit einer e-Funktion oder noch lieber mit einer ganzrationalen Funktion dritten Grades modelliert.

Welche Kompetenzen also soll der Schüler erwerben, wenn ihm mehr als die Hälfte der vor 30 Jahren verlangten fachlichen Grundlagen fehlt? Diese Frage richten wir erst recht an Verfechter des fachübergreifenden Projektunterrichts.

Nur projektbezogen unterrichten? Das wäre noch schlimmer

Der Kollege Christian Hesse hat kürzlich in der Süddeutschen Zeitung verlangt, das Mathematikverständnis in der Schule müsse gestärkt werden, damit junge Menschen an einer zunehmend mathematisierten Welt teilhaben können. So weit, so richtig. Zugleich aber betont Hesse, um Kompetenzen in Mathematik zu erwerben, sei Mathematikunterricht nicht nötig. Ja, er fordert sogar, alle Fächer aufzuheben und nur noch einen projektbezogenen, an Alltagsfragen orientierten Unterricht abzuhalten. Würde das Problem damit gelöst? Sicher nicht. Es würde nur verschlimmert.

Ohne Basiswissen gleicht dieser Unterricht einem schönen, aber einsturzgefährdeten Dach ohne Wände und Fundament. Guter Mathematikunterricht braucht Begeisterung für das Fach, er braucht Abwechslung, realistische Anwendungsbezüge, Ideen, Fleiß und vor allem Tiefe: gut durchdrungene und stringent aufeinander aufbauende fachliche Grundlagen. Grundsätzlich gilt dies für alle Fächer. Es ist höchste Zeit, sich darauf zu besinnen.

Markus Spindler ist Mathelehrer und leitet das Gymnasium in Halle. Dieter Remus ist Privatdozent an der Uni Paderborn und war lange Mathelehrer. Hans Peter Klein lehrt Didaktik der Biowissenschaften an der Goethe-Uni Frankfurt.

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