Fall Schavan:Wenn aus dem Plagiatsvorwurf eine Hetzjagd wird

Die Uni Düsseldorf hat die volle Verantwortung für eine mangelhafte Promotion auf das schwächste Glied abgewälzt, die Doktorandin Annette Schavan. Das ist fatal, denn dadurch geraten wissenschaftliche Arbeiten unter Generalverdacht. Doch ohne Vertrauen keine Kommunikation - und ohne Kommunikation keine Wissenschaft.

Ein Gastbeitrag von Ernst-Ludwig Winnacker

Wie so oft im Leben erlauben es Extremsituationen, den Blick auf ein bestimmtes System zu schärfen und seine Stärken und Schwächen zu analysieren. Mein Ausgangspunkt ist die geradezu jakobinisch anmutende Entscheidung der Philosophischen Fakultät der Universität Düsseldorf, Annette Schavan den Doktortitel abzuerkennen. Jakobinisch deshalb, weil auch damals, kurz nach der Französischen Revolution, Menschen in Hetzjagden verfolgt wurden, die dieses nicht verdient hatten.

Die vielen Stimmen derjenigen, die diese Entscheidung begrüßen, unter ihnen der Präsident des Hochschulverbandes, der für alle Hochschullehrer zu sprechen beansprucht, zeigen, dass man das Problem nicht verstanden hat und daher ein Systemproblem existiert. Ganz offensichtlich hat man in diesen Kreisen keine Vorstellung davon, was Plagiate wirklich sind und wie damit umzugehen ist. Man vertraut nahezu blind auf ein Geschäftsmodell, das schwarz-weiß argumentiert, und damit fast zwangsläufig zu solch abwegigen Entscheidungen führt wie im Falle Schavan.

Das fragliche Geschäftsmodell basierte in der Vergangenheit auf Heftchen mit Zitierregeln, seit Neuestem auf elektronischem Textvergleich. Natürlich müssen Zitierregeln beachtet werden. Wer aber auf solch starre Regeln vertraut, kommt dann auch schnell und fast automatisch zu Schlüssen, wie zuletzt im Falle Düsseldorf/Schavan, wonach alles, was diesen Regeln nicht entspricht, vorsätzlich und in unredlicher Absicht geschehen sein muss.

Die Frage nach dem "Warum" bleibt unbeantwortet

Die Wirklichkeit sieht jedoch ganz anders aus. Auf der einen Seite stehen echte Plagiate, wie wir sie von der Arbeit Guttenbergs kennen, wo ein großer Teil des Textes abgeschrieben wurde. Auf der anderen Seite das Zitiergebaren, das nun im Fall Schavan diskutiert wird. Dabei geht es nicht nur ums Zitieren, sondern um die Frage, warum an bestimmten Stellen Hinweise auf die Quellen korrekt gegeben werden und warum sie an anderen Stellen fehlen.

Dieser Frage nach dem "Warum" ist die Düsseldorfer Fakultät ganz offensichtlich nicht nachgegangen. Wo und wann beispielsweise grenzt eine Paraphrase, also der Versuch, einen bestimmten Sachverhalt mit eigenen Worten darzustellen, an ein Plagiat? Wo reicht eine indirekte Rede, um klarzustellen, dass es sich nicht um eigene Gedanken handelt? Wer diese und andere Fragen nicht stellt, gründet seine Recherchen auf reinem Misstrauen, und stellt damit das ganze System infrage.

Überall wächst derzeit der Druck, Diplom- und Doktorarbeiten, aber auch wissenschaftliche Publikationen und Forschungsanträge automatisch auf Wort- und Satzgleichheit zu prüfen. Wer das fordert und dann auch geschehen lässt, traut dem Wissenschaftssystem nicht mehr zu, vertrauensvoll zu agieren. Es würde eine Atmosphäre des gegenseitigen Misstrauens entstehen. Es gäbe dann keinen kollegialen Austausch mehr, keine Treffen von wissenschaftlichen Arbeitsgruppen, keine Meetings und Kongresse und auch keinen sogenannten Peer-Review mehr, also die Analyse der Qualität einer Arbeit durch Fachkollegen. Ohne Vertrauen keine Kommunikation, ohne Kommunikation keine Wissenschaft.

Gegenseitiges Vertrauen manifestiert sich im Umfeld der Wissenschaft auf vielfältige Weise, darunter auch und besonders im Umgang mit Studierenden. Im konkreten Fall hat die Düsseldorfer Fakultät es sich sehr einfach gemacht. Sie hat ihre Verantwortung in vollem Umfang an das schwächste Glied in der Reihe, nämlich die damals 25-jährige Kandidatin, weitergegeben, statt zu fragen, warum man nicht selbst vor gut dreißig Jahren die Arbeit gelesen und die angeblichen Fehler beim Zitieren bemängelt und korrigiert hat.

Konnte, ja musste nicht die Kandidatin davon ausgehen, dass jemand die Arbeit liest und mit ihr darüber diskutiert?

Rückschritt in vergangen geglaubte Zeiten

Zahllose Doktormütter und Doktorväter betrachten dies als ihre wichtigste und vornehmste Aufgabe, aber eben nicht alle. So wird nun die Ministerin, die sich ursprünglich sogar an die Universität Düsseldorf gewandt hatte, vom System gezwungen, dieses zu verlassen und den Rechtsweg zu suchen. Ich hatte bislang gedacht, das Jakobinertum der Zeit von 1793 ff sei längst überstanden.

Leider haben die meisten Fakultäten bislang keine Mechanismen, um mit wissenschaftlichem Fehlverhalten umzugehen. Oft lösen sie nicht einmal die allereinfachsten Sachverhalte, wie das Problem der Befangenheit. Im Falle Düsseldorf war natürlich die Fakultät zutiefst befangen und hätte daher das Verfahren abgeben müssen. Das hat sie aber ganz offensichtlich nicht begriffen, oder sie hat es begriffen und sie hatte nur Angst um ihren Ruf.

Ich war lange genug in verantwortlicher Stellung bei Forschungsförderorganisationen im In- und Ausland, um zur Kenntnis zu nehmen, dass dieses Thema entweder komplett ignoriert wird oder die falschen Strukturen geschaffen werden. Nehmen wir das Beispiel eines Doktoranden, dessen Chef sich wissenschaftlich unredlich verhält. Wenn er sich direkt bei diesem beschweren muss, weil es keinen anderen Weg gibt, kann es ihm passieren, als bloßer Nestbeschmutzer behandelt zu werden, vielleicht gar seinen Job zu verlieren. Ungleich besser wäre es, er könnte sich einer unabhängigen Clearingstelle anvertrauen.

Es wird Zeit, dass jemand die Dinge in die Hand nimmt

Längst ist klar, wie man mit diesem Thema umzugehen hat. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat einen "Ombudsman der Wissenschaft", die USA ein "Office of Research Integrity". Das DFG-System steht allen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unmittelbar und unabhängig von einer Beteiligung der DFG zur Verfügung. Obwohl es inzwischen, nicht zuletzt dank der guten Arbeit der Beteiligten im Falle von DFG geförderten Anträgen gut funktioniert, scheint es in anderem Umfeld kaum oder zu wenig bekannt zu sein.

Ich schlage daher vor, zusätzlich eine zentrale Stelle, beispielsweise bei der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, anzusiedeln, an die man sich in all diesen Fällen wenden kann, sei es als einzelner "Whistleblower", sei es als Fakultät, die sich als befangen empfindet. Eine Arbeitsgruppe des Inter-Academy-Council, einer Vereinigung der Akademien der Wissenschaften dieser Welt, der ich als Co-Chair vorstehe, hat dieses Engagement der Akademien kürzlich mit Nachdruck empfohlen.

Sollte das System aber dazu nicht selbst in der Lage sein, dann ist möglicherweise die Politik angesprochen, also beispielsweise die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz. Es wird Zeit, dass endlich jemand die Dinge in die Hand nimmt, um noch mehr Schaden von unserem Wissenschaftssystem abzuwenden, als durch eine Entscheidung à la Düsseldorf bereits angerichtet wurde.

Ernst-Ludwig Winnacker, 71, lehrte mehrere Jahrzehnte Biochemie an der Universität München. Er war Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und später erster Generalsekretär des Europäischen Forschungsrates.

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