Süddeutsche Zeitung

Expertengespräch:"Schicksal und Genetik"

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Tiemo Grimm ist Professor. Und Legastheniker. Über die Lese- und Schreibstörung, die er bestens kennt in Theorie und Praxis.

Interview von  Matthias Kohlmaier

SZ: Herr Grimm, Sie stammen aus einer Legasthenikerfamilie. Wann wurde die Behinderung bei Ihnen diagnostiziert?

Tiemo Grimm: Als sie auch bei meinem ältesten Sohn diagnostiziert wurde, da war ich 46 Jahre alt. Ich hatte schon zu Schulzeiten große Probleme mit Lesen und Schreiben gehabt, aber damals wusste niemand, was ich haben könnte - ich galt als einseitig begabt. Das war mein Glück, denn weil ich in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern so gut war, wurde ich trotz meiner Lese- und Rechtschreibprobleme akzeptiert.

Wie haben Sie Lesen und Schreiben gelernt?

In der Schule kaum, meine Mutter hat mir das zu Hause mit der Buchstabiermethode beigebracht. Trotz harter Arbeit habe ich aber in der Schule zwei Jahre verloren. Erst bin ich beim ersten Versuch wegen einer Sechs im Diktat durch die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium gefallen, später musste ich wegen Englisch, Deutsch, Latein und Altgriechisch in der Mittelstufe eine Klasse wiederholen.

Wie hat Sie die Legasthenie auf dem Weg zum Abitur beeinträchtigt?

Meine Rechtschreibung war grauenhaft, den Abschluss habe ich daher mit einer einfachen Strategie geschafft: In den sprachlichen Fächern habe ich mich ständig für Referate gemeldet und so schlechte schriftliche Leistungen ausgeglichen. Am Ende hatte ich in allen mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern Einser und in den Sprachen Vierer.

Im Studium dürften Sie auch Probleme bekommen haben?

Kaum, da ein Großteil des Medizinstudiums in den ersten Semestern rein mathematisch-naturwissenschaftlich aufgebaut war und wir fast nur mündliche Prüfungen hatten. Ich habe in der kürzestmöglichen Zeit studiert. Meine Doktorarbeit war mathematisch ausgerichtet, Formeln schreiben macht mir keine Schwierigkeiten. Für den Rest hatte ich gute Gegenleser.

Eine universitäre Laufbahn - das bedeutet auch zu publizieren.

Ich habe eine große Schreibhemmung und vermeide es, handschriftlich längere Texte zu schreiben. Auf dem Computer ist es dank der Korrekturprogramme nicht ganz so schlimm. Aber wissenschaftliche Publikationen entstehen ja im Team. Da war es in der Formalgenetik immer meine Aufgabe, die mathematischen Grundlagen zu erarbeiten. Den schriftlichen Teil haben oft Kollegen erledigt.

Drei Ihrer sechs Kinder sind Legastheniker. Während des Medizinstudiums Ihres ältesten Sohnes sind Sie deswegen sogar vor Gericht gezogen.

Wir haben damals eine Zeitverlängerung bei der schriftlichen Prüfung innerhalb seines Physikums erstritten - das ist heute ein Grundsatzurteil für den Umgang mit Behinderung im Studium. Er hatte einen Antrag auf Nachteilsausgleich gestellt und um eine Stunde Verlängerung für die beiden je vierstündigen Multiple-Choice-Prüfungen gebeten. Er hatte sogar seinen Schwerbehindertenausweis vorgelegt. Das Prüfungsamt hat trotzdem abgelehnt.

Mit welcher Begründung?

Ein Arzt müsse schnell lesen können und dürfte nicht behindert sein. Hanebüchen war das. In erster Instanz hat das Gericht trotzdem der Uni recht gegeben, in zweiter Instanz haben wir dann aber gewonnen. Ich konnte erstens nachweisen, dass schnelles Lesen nicht Prüfungsinhalt nach der medizinischen Approbationsordnung ist, und zweitens glaubhaft machen, dass es kaum einen medizinischen Notfall geben dürfte, bei dem es meinem Sohn zum Nachteil gereicht, dass er etwas langsamer liest. Er hat die Prüfung dann bestanden.

Herr Grimm, Sie sind nun 70 Jahre alt. Wie hat sich Ihre Legasthenie in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt?

Wenn Sie eine Verbesserung vermuten, muss ich Sie enttäuschen. Ich war und bin sehr froh um die digitale Welt, in der mir viele Peinlichkeiten erspart bleiben. Und sehr wichtige schriftliche Dinge liest entweder meine Frau oder ein Mitarbeiter im Institut gegen.

Hat sich denn die Akzeptanz gegenüber Legasthenikern in den vergangenen Jahrzehnten verbessert?

Absolut. Die weltweite Forschung und der Nachweis, dass Legasthenie einen genetischen Hintergrund hat, haben viel geholfen. Die Intelligenz ist bei Legasthenikern genauso normal verteilt wie im Rest der Bevölkerung. Zum Glück wissen mittlerweile die meisten Menschen: Kein Legastheniker ist per se dumm oder schuld an seinem Handicap - das ist einfach Schicksal und Genetik

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SZ vom 08.06.2015
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