Pädagogik:"Parzival, Goethe - deswegen sind Waldorfschüler nicht weltfremd"

100 Jahre Waldorf: ´Mehr als nur seinen Namen tanzen"

Die Freie Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart. 100 Jahre nach Gründung der ersten Einrichtung verzeichnen die Waldorfschulen großen Zulauf. Foto: Sebastian Gollnow/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

(Foto: dpa)

Über Waldorfschulen gibt es viele Vorurteile. Der Erziehungswissenschaftler Heiner Ullrich erklärt, warum Eltern ihr Kind dort anmelden.

Interview von Susanne Klein

SZ: Die Waldorfschule wirkt auf manche wie die Abkehr von der harten, bösen Welt da draußen. Ist das so?

Heiner Ullrich: Ich sehe sie eher als eine Art pädagogischer Provinz, die in manchem anders ist. Zum Beispiel grenzt sie sich von den digitalen Medien ab, die Schüler sollen erst sehr spät damit lernen. Stattdessen ist sie hochkulturell geprägt, Parzival, Goethe, die Klassiker der Literatur und der anderen Künste sind in der Waldorfschule zu Hause. Aber deswegen sind Waldorfschüler nicht weltfremd, ihre Sozialisation findet ja auch an anderen Orten statt.

Warum entscheiden Eltern, dass ihr Kind an eine Waldorfschule soll?

Diese Eltern suchen für ihr Kind eine entwicklungsgemäße Pädagogik. Sie wollen, dass es seine Interessen entfalten kann. Das klappt auch ganz gut, weil die Waldorfschule viele praktische und künstlerische Lernformen anbietet, die in den staatlichen Schulen kaum Gewicht haben.

Die Schule wurde für Arbeiterkinder eingeführt. Davon ist sie heute weit entfernt.

Ja, die Waldorfeltern sind heute überdurchschnittlich oft akademisch gebildet. Da verwundert es nicht, dass Waldorfschüler häufiger Abitur machen als etwa Gesamtschüler. Dennoch ist in der Sekundarstufe ungefähr jeder zweite Schüler ein Quereinsteiger, der zuvor an der staatlichen Schule keine guten Erfahrungen gemacht hat.

Pädagogik: Heiner Ullrich ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Mainz. Der Experte für Reformpädagogik hat mehrere Bücher über die Waldorfpädagogik und ihren Begründer Rudolf Steiner geschrieben.

Heiner Ullrich ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Mainz. Der Experte für Reformpädagogik hat mehrere Bücher über die Waldorfpädagogik und ihren Begründer Rudolf Steiner geschrieben.

(Foto: oh)

Die Beziehung zum Klassenlehrer ist eng und hält lange an, berichtet unsere Kollegin. Ist das immer gut?

Das kann produktiv sein oder riskant. Produktiv, weil der Schüler dadurch in der Schule eine Heimat findet. Riskant, wenn der Lehrer den Schüler verkennt und er sich nicht entfalten kann. Manche sind froh, wenn sie nach acht Jahren ihren Klassenlehrer los sind, andere hängen an ihm.

Wie beurteilen Sie die Lehrerausbildung?

Die meisten Waldorfschullehrer erlernen ihren Beruf an kleinen, anthroposophisch geprägten Instituten. An der staatlichen Lehrerausbildung, die immer wieder optimiert wird, führt dieser Sonderweg vorbei. Nach meiner Ansicht sollten die angehenden Lehrer an öffentlichen Universitäten studieren, so ähnlich wie die Schulmediziner, die später in eine anthroposophische Praxis gehen.

Hat die Waldorfschule staatliche Schulen inspiriert, sie gar verändert?

Nein, von vereinzelten Schulprojekten abgesehen, hat sie das nicht. Jahrgangsübergreifender Unterricht, Projektunterricht, Gruppenarbeit - all diese Innovationen kommen nicht aus der Waldorfschule.

Dennoch ist sie sehr erfolgreich, die Nachfrage ist groß. Die Schulen können sich ihre Schüler aussuchen. In Berlin hat kürzlich eine Waldorfschule das Kind eines AfD-Abgeordneten abgelehnt.

Die Schulen führen ein Aufnahmeverfahren durch, auch die Familie wird geprüft: Passt sie zu uns, will sie sich engagieren? So wie katholische Schulen keine muslimischen Kinder aufnehmen müssen, können Waldorfschulen einer Familie absagen, die nach ihrer Ansicht nicht zu ihrer Pädagogik passt. Und die Waldorfschule ist nun mal eine stark weltanschaulich geprägte Einrichtung. Eine solche Auswahl zu treffen, ist das Privileg der privaten Schulen.

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