Duales Studium:Lernen ohne Aha-Effekt

15 07 2013 Muelheim an der Ruhr Nordrhein Westfalen Deutschland Jungingenieurin in der Produkti

Eine der Kernfragen bei der Auswahl eines dualen Studiengangs: Bekomme ich wirklich den Bachelor plus Ausbildungsabschluss oder geht es um ein Angebot mit Langzeitpraktikum?

(Foto: Rupert Oberhäuser/imago)

Beim dualen Studium haben Hochschullehre oder Ausbildung oft erhebliche Defizite. So ist das Verhältnis von Theorie und Praxis nicht immer ausgewogen. Auf welche Qualitätsmerkmale sollte man sonst noch achten?

Von Christine Demmer

Vor drei drängenden Problemen stand die Bildungspolitik in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Die traditionelle Berufsausbildung verlor an Zuspruch, den übervollen Hochschulen drohte ein Qualitätsverlust, und der Bedarf der Wirtschaft nach qualifiziertem Nachwuchs schoss in die Höhe. Also taten sich Unternehmen und die praxisnah ausbildenden Fachhochschulen zusammen - die Universitäten sahen und sehen sich bis heute kaum angesprochen - und gründeten duale Studiengänge. Wer bis zum Ende durchhielt, bekam sowohl ein Diplom als auch - je nach Fachrichtung - einen Gesellen- oder Kaufmannsgehilfenbrief.

Es dauert lange, bis die jungen Leute auf dieses Konzept ansprangen. 2017 waren nach Angaben des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) mit Sitz in Gütersloh circa 104 000 Frauen und Männer in einem dualen Stundengang eingeschrieben. Das sind zwar nur 3,7 Prozent aller Studierenden. Doch immerhin studiert fast jeder Zehnte an einer Fachhochschule beziehungsweise an einer Hochschule für angewandte Wissenschaften nach diesem Hybridmodell.

"Das duale Studium ist eine attraktive Marke", versichert Sigrun Nickel, die für das CHE in Gütersloh die Entwicklung des tertiären Bildungssektors erforscht. Schließlich beinhalte es das Versprechen, dass es berufspraktische Erfahrung und ein Studium verbinde, den Bedürfnissen der Unternehmen entgegenkomme und den Absolventen einen Startvorteil auf dem Arbeitsmarkt verschaffe. Genau hier setzt ihre Kritik ein. "Es gibt ein Qualitätsproblem" - Nickel sagt es klar heraus. "Um das Versprechen des dualen Studiums zu erfüllen, müssen die Bildungspartner die Theorie und die Praxis enger zusammenbringen." Derzeit sei es mehr ein Nebeneinander, bemängelt die Bildungsexpertin: Die Hochschulen folgten ihren Studienplänen, die Unternehmen ihren Ausbildungs- und Personaleinsatzplänen, und die inhaltliche Verknüpfung funktioniere nicht immer. Ihre Schlussfolgerung: "Nicht alles, was sich 'duales' Studium nennt, erfüllt den hohen Anspruch."

Viele werden nicht nach Plan eingesetzt, sondern in einer Abteilung, wo Not am Mann ist

Zur Veranschaulichung des Missstandes zitiert die Sozialwissenschaftlerin Sirikit Krone in der Studie der Hans-Böckler-Stiftung "Dual studieren - und dann?" von 2019 beispielhaft eine Personalverantwortliche. Diese schildert in umgangssprachlichem Deutsch, wie Theorie und Praxis kombiniert werden: "Da sind ja vorgeschriebene Zeiten, wann die ihre Theoriephasen haben in der Hochschule. In den Zeiten dazwischen plane ich die halt in jeder Abteilung ein, sodass die wirklich alles mitbekommen. Ich versuche darauf zu achten, ob ich das irgendwie an deren Theorieteilen ausrichten kann, dass wenn die Controlling haben, dass wir die vielleicht auch in ein Controlling-Projekt oder in irgendwas reinkriegen, versuche ich, klappt nicht immer." Ein Betriebsrat wird noch deutlicher: Man müsse "immer unterscheiden zwischen dualem Studium, was wir hier im Unternehmen offiziell machen" und denjenigen, die das inoffiziell machen würden. In manchen Unternehmen können die Studierenden selbst festlegen, wann sie wo eingesetzt werden wollen. In anderen sind die bei Studienbeginn ausgehändigten Einsatzpläne kaum mehr als gute Vorsätze, die unter dem Alltagsdruck zerbröseln.

Den Unmut über zu wenig aufeinander abgestimmte Lerninhalte teilen viele Studenten. In der Studie beklagt sich etwa eine Studentin aus Bremen: "Der Betrieb kennt natürlich meinen Studienplan. Ich werde aber oft in Abteilungen eingesetzt, wo gerade Not am Mann ist. Das Hineinschnuppern in den Bereich, der eigentlich auf dem Plan stand, rückt in die Zukunft - und fällt unter Umständen ganz weg." Auch Kommilitonen aus anderen Betrieben mache das zu schaffen. Entsprechend schwer falle es den Teilnehmern, den Lehrstoff der Hochschule mit der praktischen Arbeit im Geschäft zu verbinden - der "Aha-Effekt", wie sie es nennt, bleibe aus.

Das bemängelt auch die Konrad-Adenauer-Stiftung. In einer Publikation der Reihe "Analysen & Argumente" vom Januar 2019 stellen Felise Maennig-Fortmann und Nadine Poppenhagen fest: "Es muss eine stärkere inhaltliche Verzahnung der theoretischen und praktischen Lernphasen angestrebt werden. Studiengänge, die diese Verzahnung nicht aufweisen, sollten sich nicht als 'dual' bezeichnen dürfen."

Schon gar nicht, wenn den jungen Menschen nur der Hochschulabschluss und kein zweiter, praktischer Bildungsabschluss angeboten wird. Das aber ist heute beim dualen Studium mehrheitlich der Fall. Statt eines Studiums plus klassischer Berufsausbildung mit Abschlussprüfung vor der IHK oder Handwerkskammer ("ausbildungsintegrierender Studiengang") bieten viele Unternehmen "praxisintegrierende" Studiengänge an - gewissermaßen ein Hochschulstudium mit Langzeitpraktikum. Die Betriebe können, müssen sich hierbei aber nicht an Ausbildungsplänen orientieren, auf die sich Hochschulen und Betriebe verständigen, die ausbildungsintegrierende Studiengänge anbieten. In solche Abstimmungsprozesse können auch die Handwerkskammern oder IHKs eingebunden sein. "Zwischen 2015 und 2017 war die Mehrheit der dual Studierenden in einem praxisintegrierenden Studiengang eingeschrieben", fasst Sigrun Nickel die Datenlage zusammen. Nur im Gesundheitsmanagement und der Baubranche liegen beide Formen des dualen Studiums etwa gleichauf.

75 Prozent der Zeit im Betrieb, 25 Prozent an der Hochschule? Da stimmt das Verhältnis nicht

Der Vorteil der praxisintegrierenden Studiengänge für die Betriebe ist höhere Flexibilität beim Einsatz der Studierenden. Die Teilnehmer selbst brauchen Ellenbogen, denn sie müssen sowohl die Lerninhalte als auch die Höhe der Vergütung aushandeln. "Beim ausbildungsintegrierenden Studium zahlen die Arbeitgeber die Ausbildungsvergütung", stellt Nickel fest. Für ein Praktikum gebe es keine Mindestvergütung: "Die Grauzone fängt da an, wo es in Richtung Praxisintegration geht. Da ist der Ausnutzung von Freiräumen Tür und Tor geöffnet."

Wer sich für ein duales Studium interessiere, möge sich daher umfassend informieren. Welche Studienmodelle bietet ein Betrieb an? Haben Hochschule und Betrieb einen Vertrag geschlossen? Wie wird die Verzahnung von Theorie und Praxis sichergestellt? Wie verteilen sich die Lernzeiten auf die Lernorte? Nickel: "75 Prozent der Lernzeit im Betrieb und nur 25 Prozent an der Hochschule zu verbringen, ist kein ausgeglichenes Verhältnis." Welche Unterstützung bietet der Betrieb? Gibt es Betreuer, Sprechstunden, Beratungsangebote? "Kritisch sein", rät Nickel, "und sich genau umschauen".

Die Nachfrage nach dualen Studienplätzen ist größer als die Anzahl der zur Verfügung stehenden Plätze. Dass sie knapp sind, dürfte das Interesse befördern. Ökonomen sprechen von "Knappheitspreisen", die begehrte, aber nicht in ausreichender Menge zur Verfügung stehende Dinge kosten. Da kann es sich lohnen, nach Alternativen Ausschau zu halten, etwa zunächst eine Berufsausbildung zu machen und ein passendes Studium draufzusatteln.

Mithilfe des dualen Studiums wurde bislang noch keines der Probleme gelöst, die in den Siebzigerjahren zu dessen Entstehung geführt hatten.

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