Süddeutsche Zeitung

Schulöffnungen trotz Corona:Dann eben unter freiem Himmel

Sachkunde auf der Wiese, Englisch im Wald: Die Idee der "Draußenschule" kommt aus Norwegen, aber auch in Deutschland gab es erste Experimente. Taugt das Nischenkonzept in der Corona-Krise auch für die Breite?

Von Fabian Busch

Wenn an der Ahrbach-Grundschule im rheinland-pfälzischen Niederahr ein Draußentag ansteht, packen die Lehrer morgens den Bollerwagen voll. Mit Klemmbrettern samt Aufgabenzetteln, Verbandskasten, Verpflegung. Die Kinder bekommen das Schulgebäude einen Tag lang nicht zu Gesicht, sie wandern stattdessen, singen Lieder, machen unterwegs Sachkundeunterricht. Und wenn es auf einer Koppel Pferde und deren Hufe zu zählen gibt, ist Rechnen angesagt.

Die Dorfschule hat 2014 bis 2017 am Modellprojekt "Draußenschule" teilgenommen. Die Idee dahinter stammt aus Norwegen, wo die "uteskole" auf der langen, identitätsstiftenden Tradition des "friluftsliv" (Freiluftleben) aufbaut. Durch das Coronavirus hat das Thema zusätzliche Aufmerksamkeit erfahren: Als nach den Schließungen auch in Norwegen die Schulen langsam wieder den Unterricht aufgenommen haben, rief das Bildungsministerium Lehrkräfte auf, verstärkt Außenflächen zu nutzen. Virologen gehen davon aus, dass die Infektionsgefahr im Freien geringer ist, zudem können sich Lerngruppen so besser aus dem Weg gehen.

Ulrich Dettweiler von der Universität Stavanger sieht seitdem immer häufiger Schüler, die in kleinen Gruppen draußen unterwegs sind. Bevor er nach Norwegen ging, untersuchte er am Lehrstuhl für Sport- und Gesundheitsdidaktik der Technischen Universität München bereits die Auswirkungen von Freiluftunterricht. "Wir wissen ganz sicher, dass er die intrinsische Motivation steigert", sagt er. Schüler würden im Freien selbständiger handeln, seien weniger eingeschränkt - und sie könnten Qualitäten zeigen, die im Klassenraum wenig zur Geltung kommen. "Wir haben von den Lehrkräften gehört, dass sie ihre Schüler zum Teil aus einer ganz anderen Perspektive kennenlernen", sagt Dettweiler.

Freiluftunterricht steigert die intrinsische Motivation, sagt der Bildungsforscher Ulrich Dettweiler

Also nichts wie raus? Dettweiler betont, dass Lehrkräfte das Lernen im Freien gut vorbereiten müssen. "Wenn ich den Unterricht einfach eins zu eins nach draußen kopiere, ist das meist die schlechtere Variante. Unterricht im Freien muss projektorientiert sein und ist vor allem eine Ergänzung." Dettweiler nennt ein praktisches Beispiel: Schüler könnten zum Beispiel einen Tag lang im Freien eine Hütte bauen und sich dabei auf Englisch unterhalten. Die Vorbereitung und die Ergebnissicherung danach würden aber besser im Klassenraum funktionieren.

Der Pädagogik-Professor Matthias Witte von der Universität Mainz hat das Projekt "Draußenschule" an drei deutschen Grundschulen wissenschaftlich begleitet. Er ist aber skeptisch, ob das Modell auch zu den Bedingungen in der Corona-Krise passt. Denn Abstand zu halten, fällt gerade kleinen Kindern auch im Freien schwer: "Das soziale Miteinander und Spielen müssen fester Bestandteil der Draußenschulpraxis bleiben", sagt er. "Abstands- und Hygieneregeln im Wald oder sonstwo zerstören die Grundidee und erschweren zusätzlich die Praxis."

Das sagt auch Kerstin Neis, Leiterin der Ahrbach-Grundschule. "Die Natur ist einfach zu interessant. Jedes Kind, das etwas entdeckt, will es auch anderen zeigen." Sie habe in letzter Zeit kaum noch an das Konzept gedacht, erzählt sie: Zu sehr sei sie mit anderen Fragen beschäftigt gewesen - etwa wie sie sicherstellt, dass künftig die Türklinken regelmäßig desinfiziert werden.

In Deutschland ist das Thema bisher in der Nische stecken geblieben. Das Modellprojekt "Draußenschule" der Uni Mainz ist 2017 ausgelaufen. An der Ahrbach-Grundschule wolle man an den Unterrichtseinheiten im Freien aber festhalten, sagt Neis - auch wenn sie inzwischen eher unregelmäßig stattfinden. "Die Kinder lernen so spielerisch", sagt sie - und am Tag danach im Klassenraum seien sie aufnahmefähiger für neue Themen.

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SZ vom 11.05.2020/berk
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