Süddeutsche Zeitung

Diskussion um G8 und G9:Frieden ist nicht in Sicht

Kippt nun ein Bundesland nach dem anderen das G8? In Niedersachsen ist die Rückkehr zum Abitur in 13 Jahren bereits beschlossene Sache, andernorts wird ernsthaft darüber diskutiert. Doch die Reform der Reform ist nicht problemfrei: Der Verband der Gymnasiallehrer befürchtet, dass Standards gesenkt werden.

Von Roland Preuß und Marc Widmann

Nun könnte es ganz schnell gehen. Kaum hatte Niedersachsen am vergangenen Mittwoch seine Abkehr vom achtjährigen Gymnasium erklärt, bewegt sich auch in anderen Ländern etwas. Schon einen Tag später lud die nordrhein-westfälische Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) Vertreter aus Schule, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik ein, um über das achtjährige Gymnasium (G8) zu sprechen. Und in Hamburg kann sich die oppositionelle CDU plötzlich doch ein neunjähriges Gymnasium (G9) vorstellen. Wenigstens als Wahlmöglichkeit. Auch dieser Schwenk kam einen Tag nach dem Signal aus Hannover. Kippt nun ein Land nach dem anderen das G8?

Das ist keineswegs gewiss, auch wenn Trend und Umfragen derzeit danach aussehen. Löhrmanns Treffen soll in erster Linie dazu dienen abzufragen, ob die wichtigsten Akteure weiter hinter dem G8 im Land stehen. Schließlich war es 2004 mit breiter Unterstützung auch aus der Opposition beschlossen worden. Vor vier Jahren hatte man sich noch mal darin bestätigt, bei G8 zu bleiben - und an kritischen Punkten wie etwa bei Zeitaufwand für Schüler und individueller Förderung nachzubessern.

Und Nordrhein-Westfalen hat gegenüber Niedersachsen einen weiteren Vorteil: G8 gibt es an 614 Gymnasien, aber das Angebot von G9 ist bereits jetzt üppig. Auf 3281 Gesamtschulen, 84 Sekundarschulen zwölf und 13 Modell-Gymnasien kann man schon heute das Abitur nach 13 Jahren ablegen. Das Ventil, was andere Länder erst schaffen, ist hier schon da.

Viele Hamburger fremdeln mit dem schnellen Abi

Andererseits: Auch in Hamburg gibt es zahlreiche sogenannte Stadtteilschulen, die in 13 Jahren zum Abitur führen, also eine Alternative zum G8 an den Gymnasien. Dennoch hat sich inzwischen eine Volksinitiative "G9-Jetzt-HH" formiert. Sie fordert, dass auch die Hamburger Gymnasien zum Abitur nach 13 Jahren zurückkehren. Wo Eltern und Schüler es wünschen, solle nebenbei auch noch das Turbo-Abi bestehen bleiben. Die Stadtteilschulen sind aus Haupt-, Real- und Gesamtschulen hervorgegangen, nicht jeder will offenbar seine Kinder mit diesen Klassenkameraden lernen sehen.

Ein Volksbegehren zum G9 könnte nach den Sommerferien stattfinden, falls es vorher zu keiner politischen Einigung kommt. Die regierende SPD ist kürzlich in Gespräche mit der Initiative eingetreten. Sie weiß aus Umfragen, dass auch viele Hamburger mit dem schnellen Abi fremdeln, überdies naht die Wahl im kommenden Jahr, da will man das heikle Thema rechtzeitig abräumen. Und die CDU schwenkte um, obwohl sie das Turbo-Abi in Hamburg einst eingeführt hat. Sie schlägt jetzt vor, dass jede Schule bis Ende Oktober wählen soll, ob sie zum G9 zurückkehren will. Ihre beachtliche Wende begründen die Christdemokraten damit, dass ein Schulstreit nur noch mehr Schaden anrichten würde und endlich Frieden einkehren müsse.

Nur ist es mit dem Frieden in der Schulpolitik eine fragile Angelegenheit. Selbst in Niedersachsen ist er noch lange nicht in Sicht, obwohl Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) im G8 das größte Reizthema angegangen ist. Doch die Frage G8 oder G9 ist nur ein Streitthema von mehreren, die Zwietracht säen zwischen Regierenden, Lehrern, Eltern und Schülern. Der Ärger für Heiligenstadt ist noch lange nicht vorbei.

In etwa 300 niedersächsischen Schulen kam es vergangene Woche zu ungewöhnlichen Szenen des Aufruhrs. Lehrer, die eigentlich nicht das Fach Kunst unterrichten, knieten auf dem Boden und pinselten Protestplakate, die bisweilen putzig wirkten. Die letzte Demo lag bei vielen offenbar schon längere Zeit zurück. "Keine Stunde mehr - junge Lehrer her", reimten sie im Göttinger Max-Planck-Gymnasium. "Dagegen!" pinselten sie in Lehrte aufs Bettlaken. Die Lehrer reckten Uhren in die Höhe, auf denen es fünf vor zwölf war. Die Lehrergewerkschaft war beglückt. Das Ministerium weniger.

Der Grund des Aufruhrs: In Niedersachsen sollen die Gymnasiallehrer im nächsten Schuljahr eine Stunde länger unterrichten, dann wären es 24,5 Stunden pro Woche. Mit den eingesparten Stellen will die rot-grüne Regierung die Ganztagsschulen ausbauen. Sie will älteren Lehrern deshalb auch eine Arbeitsermäßigung vorenthalten, obwohl die Vorgängerregierung sie versprochen hatte. Jetzt wehren sich die Lehrer nicht nur mit Protestplakaten. In zahlreichen Gymnasien haben sie beschlossen, die Klassenfahrten im nächsten Schuljahr zu streichen. Seither erlebt Niedersachsen einen Schulkampf der anderen Art.

"Bauchschmerzen mit dem Runtersetzen der Anforderungen"

Auch das Thema Abschied vom G8 ist keineswegs erledigt. Heiligenstadt will die Verlängerung der Schulzeit mit einer Entlastung der Oberstufenschüler verbinden: weniger Klausuren, weniger Pflichtkurse und ein leichteres Abitur, welches die Vorgängerregierung schwieriger gemacht hatte. "Wir geben Schülerinnen und Schülern künftig mehr Zeit zum Lernen und zum Leben", sagt Heiligenstadt.

Die CDU-Opposition spricht dagegen von einem "Abschied vom Leistungsgedanken an Gymnasien"- und nicht nur sie. "Ich habe Bauchschmerzen mit dem Runtersetzen der Anforderungen", sagt der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Hans-Peter Meidinger. Grundsätzlich begrüßt er die Abkehr vom G8, auch in der Radikalität, nämlich das G9 wieder zum Normalfall zu machen. Leistungsstarke Schüler sollen ein Jahr individuell überspringen dürfen, aber es soll vom Herbst 2015 an keinen regulären Weg mehr zum G8 geben.

Doch manches am Konzept stimmt ihn skeptisch. Wenn die Pflicht zu Mathematik und Deutsch bis zum Abitur aufgehoben werden sollte, so wäre dies ein Schritt zurück, meint Meidinger. Auch das Ziel, bereits im Herbst 2015 die Klassen 5 bis 8 das neue G9-Modell fahren zu lassen, sei zumindest "ambitioniert".

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1920272
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 24.03.2014/jobr
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.