Digitalisierung:Deutschland braucht dringend ein neues Bildungssystem

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Roboter könnten bis 2025 jeden fünften Arbeitsplatz ersetzen. Wir müssen lernen, kreativ, erfindungsreich und einfühlsam zu sein - sonst stehen Millionen Deutsche vor einer unsicheren Zukunft.

Kommentar von Alexander Hagelüken

Der deutsche Arbeitsmarkt bietet am Ende des Jahres 2017 ein gemischtes Bild. Klar, die Oberfläche glänzt wie ein Bergsee in der Wintersonne. Die Konjunktur boomt. Es haben so viele Bundesbürger Arbeit wie nie. Und der demografische Wandel dürfte die Beschäftigten begehrter machen. Doch unter dieser Oberfläche schwimmen Risiken, wie sie die Unternehmensberater von Boston skizzieren: Computer und Roboter könnten bis 2025 jeden fünften Arbeitsplatz ersetzen. Und danach noch mehr.

Natürlich kann heute niemand genau wissen, wie sich die Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt auswirkt. Doch in einem Punkt sind sich die Fachleute einig: Beschäftigte werden andere Qualifikationen benötigen, um Beschäftigte zu bleiben. Mag sein, dass die Optimisten recht behalten. Dann entstehen wie in früheren Technologiewellen neue Berufe, die Absolventen genauso offenstehen wie überflüssig Gewordenen. Doch beide Gruppen können dort nur einen (Arbeits-)Platz finden, wenn sie anderes können als heute.

Das Zusammenwirken mit künstlicher Intelligenz, Algorithmen und automatisierter Fertigung erfordert neue Fähigkeiten. Schärfer gesagt: neue Arbeitnehmer. Dafür braucht Deutschland dreierlei: ein besseres Bildungssystem, mehr Chancen für Benachteiligte und ein ganz neues Konzept der Weiterqualifikation. Die Gefahr ist groß, dass diese Herausforderung im Hype der Firmen und Politiker um "Industrie 4.0" untergeht. Millionen Deutsche stünden dann vor einer unsicheren Zukunft, in der nichts mehr glänzt.

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Worum es beim Bildungssystem insgesamt gehen müsste, formuliert der Forscher Andreas Schleicher von der Organisation OECD so: "Vor einer Generation brachten Lehrer ihren Schülern etwas bei, das fürs ganze Leben halten sollte. Heute müssen sie ihre Schüler auf Technologien und Jobs vorbereiten, die erst noch erfunden werden." Übersetzt heißt das unter anderem: Mit dem sehr deutschen Herumreiten auf Spezialkenntnissen lässt sich nur ein Teil des Weges in die Zukunft zurücklegen. Statt nur Fachwissen zu lernen, sollten Schüler und Studenten lernen, möglichst flexibel und klug auf neue Situationen zu reagieren. Wer kreativ, erfindungsreich und einfühlsam ist, wird Maschinen noch lang etwas voraushaben.

Statt jedoch derart auf die Zukunft vorzubereiten, versagt das Bildungssystem selbst darin, die Hausaufgaben der Gegenwart zu erledigen. In Deutschland hängt der berufliche Erfolg von der Herkunft ab wie in kaum einem Industrieland. Während drei von vier Akademikerkindern studieren, tut dies nur jedes vierte Arbeiterkind. Und nein, diese Schieflage hat sich durch die Sonntagsreden der Politiker über die Wichtigkeit von Bildung nicht verbessert. Stattdessen hat sich der Anteil der Akademikerkinder an den Unis seit der Wiedervereinigung verdoppelt.

Die Unterschiede zeigen sich früh. Jeder fünfte Grundschüler weist starke Schwächen beim Lesen auf, Tendenz steigend. Und jedem achten jungen Erwachsenen fehlt eine Berufsausbildung. Natürlich trägt jeder selbst Verantwortung. Doch der Staat könnte Benachteiligten helfen, durch Beratung, Mentoren, spezielle Programme. Wie wenig er da leistet, ist nach zwölf Jahren einer an sozialen Fragen desinteressierten Unions-Regierung vielleicht keine Überraschung. Aber es ist eine große Hypothek für die Zukunft. Und zwar nicht nur für die Betroffenen selbst. Den Mangel an Fachkräften, über den die Unternehmen klagen, schafft sich die Bundesrepublik selbst.

Die Digitalisierung verlangt nach Tempo

Wer an die digitale Wirtschaftswelt denkt, darf nicht bei der Ausbildung stehen bleiben. Die Weiterbildung steht trotz aller Parolen vom lebenslangen Lernen noch immer im Schatten. Viele Beschäftigte handeln nach dem Gefühl, ihr Berufsleben zerfalle in zwei Phasen: Erst Lehre oder Uni, also lernen, dann Beruf, also arbeiten. Doch wer lernen und arbeiten nicht zusammendenkt, und zwar über das Aneignen des neuen Computerprogramms der Firma hinaus, dürfte in der digitalen Wirtschaftswelt scheitern.

Hier sind auch Unternehmen und Politik gefordert. Weiterqualifikation findet heute meist im engen Interesse der Arbeitgeber statt - oder eben nicht. Vielleicht ist das aus der Sicht betrieblicher Kostenzwänge verständlich. Für die Arbeitnehmer reicht es nicht. Sie müssen Fähigkeiten erwerben, die sie ganz allgemein beruflich mobiler werden lassen, für den Wechsel in eine andere Stelle oder Firma. Organisieren ließe sich das durch tarifliche Fonds, unterstützt durch den Staat - zur Not per Rechtsanspruch auf Weiterbildung. Die Digitalisierung verlangt nach Tempo. Ein Weiter-so wird Beschäftigten ein böses Erwachen bescheren.

© SZ vom 27.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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