Süddeutsche Zeitung

Digitale Hochschule:Uni to go

Wer sich an der Minerva-Universität einschreibt, sieht keinen Hörsaal von innen. Studierende ziehen alle vier Monate in eine andere Stadt. Bildungsnomaden wie sie sollen die Zukunft sein.

Von Anne Kratzer

Während Gabriella Grahek mit ihrem Dozenten über soziale Bewegungen diskutiert, zieht ein Mann hinter ihr Lidl-Tüten durch den Raum. Ein anderer beugt sich mit einer Lupe über den "Berliner Kurier", aus allen Ecken dringt Gemurmel. Im Eingangsbereich dieser öffentlichen Bibliothek in Berlin tobt das Durcheinander, und Grahek sitzt vor dem Laptop und besucht ein Online-Seminar. Den Ort hat sie bewusst gewählt: Grahek wollte während des Studiums nicht in der Blase eines Universitätsgeländes versinken - sondern in der Welt.

Gabriella Grahek, 20 Jahre alt, ist Studentin des ersten Jahrgangs der Minerva-Universität, einer kalifornischen Hochschule, deren Studenten alle vier Monate an einen anderen Ort in der Welt ziehen. Seminare werden am Laptop besucht. Was auf den ersten Blick wie ein bisschen Bildungsurlaub für Kinder reicher Eltern scheint, ist anstrengend und wird immer beliebter: Mit einer Akzeptanzrate von 2,8 Prozent bei 16 000 Bewerbern war Minerva im vergangenen Jahr selektiver als Harvard, die als wählerischste aller US-Unis gilt.

Der hohe Anspruch dieser erst 2012 gegründeten Hochschule wird an vielen Details sichtbar. Etwa daran, dass nicht eine festgelegte Anzahl von Studenten zugelassen wird, sondern nur solche, die im Zulassungsverfahren eine bestimmte Punktzahl erreicht haben. Oder daran, dass die Dozenten von renommierten Universitäten kommen. Nicht zuletzt, weil die Hochschule psychologische Berater eingestellt hat, die den neuen Studenten erklären, wie sie damit umgehen können, wenn sie nicht mehr die Klassenbesten sind.

Obwohl es bisher keine Absolventen gibt - und damit keine Erfahrung über den Erfolg der Ausbildung - interessieren sich viele begabte Schulabgänger für die Uni. Das könnte daran liegen, dass sie im Vergleich zu den amerikanischen Top-Unis günstig ist. Etwa 30 000 Dollar zahlen die Studenten pro Jahr inklusive Unterbringung. In Harvard würden sie das Doppelte bezahlen.

Maximal 18 Studenten lernen an der Minerva gemeinsam in einem Seminar, die Kosten für den guten Betreuungsschlüssel kann die Uni andernorts einsparen: Sie braucht keine Gebäude. Grahek hat dieses Konzept überzeugt. Ausschlaggebend für ihre Bewerbung war aber etwas anderes: Der Lehrplan ist so gestaltet, dass die Studenten von den Erkenntnissen aus Gedächtnispsychologie und Unterrichtsforschung profitieren sollen.

Die Studierenden sollen sich überall in der Welt zu Hause fühlen

San Francisco, Berlin, Buenos Aires, Seoul, Taipeh, London und Hyderabad - die Studenten leben nicht zur Zerstreuung in unterschiedlichen Städten, und auch, dass sie aus verschiedenen Ländern stammen, ist Kalkül. Für Stephen Kosslyn, ehemaliger Harvard-Psychologie-Professor und einer der beiden Gründer, ist der Nutzen daraus offensichtlich. Er erklärt ihn mit der "Kontakt-Hypothese". Je mehr man sich mit Fremdem auseinandersetze, desto besser komme man damit zurecht. Sein Ziel ist es, Führungskräfte auszubilden, die sich überall in der Welt zu Hause fühlen.

Gut vorstellbar, dass deren Zimmer aussehen wie das von Grahek: leer, aber mit vielen Weltkarten an der Wand. Die Wohnungen werden von der Uni angemietet, sodass die Studenten sich nicht darum kümmern müssen und zusammenwohnen können. Abends treffen sie sich oft in der WG von Grahek und einem israelischen Pärchen und machen Yoga.

Grahek studiert Natur- und Sozialwissenschaften und will sich später für Nachhaltigkeit oder Menschenrechte einsetzen - wie genau, weiß sie noch nicht. Damit ist die Kalifornierin an der Minerva gut aufgehoben. Im Bachelor lernt sie, wie es in den USA üblich ist, nicht nur ein Fach, sondern mehrere. Nach vier Jahren können die Minerva-Studierenden einen in den USA anerkannten Bachelor of Arts oder Science erhalten - je nach Spezialisierung in Informatik, Business, Kunst- und Geisteswissenschaften, Sozial- oder Naturwissenschaften.

Natürlich sei das kein Modell für alle, sagt Ben Nelson, neben Kosslyn der zweite Gründer. Doch für eine wachsende Anzahl von globalen Führungskräften würde interdisziplinäres Arbeiten immer wichtiger. Nelson, 41 Jahre alt, gibt sich, wie es zu einem Silicon-Valley-Unternehmer passt. Er ist an diesem Tag zu Besuch in Berlin und lehnt sich in einem Sofa zurück, während er davon spricht, dass er die beste Uni der Welt gegründet hat. "Wir lehren das, was alle Unis behaupten zu lehren, aber nicht schaffen", sagt er. "Alle sagen, sie bringen den Studenten bei, wie man kritisch denkt, die großen Probleme der Welt angeht und global denkt." Doch sie überließen es dem Zufall, ob man diese Fähigkeiten während des Studiums einer Fachdisziplin "quasi nebenbei" erwerbe. An der Minerva liege der Fokus darauf.

"Kritisches Denken, kreatives Denken, effektive Kommunikation und effektive Interaktion", lautet das ehrgeizige Credo der Hochschule. Die vier Ziele hat Stephen Kosslyn, der weißhaarige Chefdidaktiker, in über 100 Teilkompetenzen aufgeschlüsselt. Im ersten Jahr machen die Studenten nichts anderes, als sie zu trainieren. Jede Kompetenz bekommt ihre Unterrichtsstunde. Beispiel: die Fähigkeit "Behauptungen analysieren". In der Unterrichtseinheit dazu unterteilen die Studierenden Argumente in Prämissen und Konklusionen.

Loggt sich Grahek in das Online-Lernsystem ein, erscheinen Noten für die Teilkompetenzen. Sie beruhen auf einer standardisierten Einschätzung der Dozenten. Sie bewerten die Studenten mindestens alle zwei Wochen daraufhin, wie sie die Kompetenzen während der Seminare anwenden. Alle Seminarstunden werden aufgenommen und analysiert: Spricht ein Student etwa unterdurchschnittlich viel, erscheint ein grünes Zeichen auf dem Bildschirm des Dozenten, und er ist angehalten, ihn öfter aufzurufen. Außerdem werden pro Stunde zwei schriftliche Beiträge bewertet. Dazu kommen wöchentlich kleinere und größere Aufsätze. Hierzulande, wo selbst über die Anwesenheitspflicht diskutiert wird, wäre all das kaum denkbar. Gabriella aber findet es gut: "Es hilft mir, mich zu verbessern."

"Deliberate Practice", sagt Kosslyn dazu. Das heißt so viel wie "reflektierte Praxis" und beschreibt eine durchstrukturierte, anstrengende und oft als unangenehm empfundene Methode, um exzellente Leistungen zu erreichen. Häufiges Feedback ist ein Teil davon.

Statt Vorlesungen haben die Studenten Videokonferenzen im Stil von Seminaren

Ein weiteres wichtiges Prinzip der Minerva-Uni lautet "aktives Lernen". 2014 hat ein Team von Scott Freeman an der Universität Washington 225 Studien analysiert und herausgefunden: Die Wahrscheinlichkeit, bei Prüfungen durchzufallen, ist anderthalbmal höher, wenn die Lernenden Vorlesungen besuchen, anstatt sich den Stoff auf eine aktivere Art beizubringen. Die Metastudie bestätigte, was schon viele andere Untersuchungen gezeigt hatten: Vorlesungen bringen wenig. An der Minerva wurden sie deshalb verbannt. Die Studenten haben nur die Videokonferenzen im Stil von Seminaren. Dort diskutieren sie über den Stoff. Beibringen müssen sie ihn sich selbst, mit Büchern oder mit MOOCs, öffentlichen Onlinekursen anderer Universitäten.

"Ich arbeite ungefähr 50 Stunden pro Woche. Minimum", sagt Grahek. Nach einer kurzen Pause wiederholt sie das letzte Wort. Die Zeitinvestition der Studenten ist durch die regelmäßigen Tests konstant. "In Harvard haben sie etwa drei Prüfungen pro Semester, bei uns 50. Minerva ist härter", sagt Kosslyn. Dazu kommt der häufige Umzug in eine neue Umgebung. Grahek gibt zu, dass ihre Ausbildung sehr fordernd sei, "aber wenn du es schaffst, wirst du robust".

"Manchmal wäre es schon bequemer, eine eigene Mensa oder eigene Cafés zu haben", sagt Gabriella Grahek. Weil diese Infrastruktur fehlt, sind die Studenten viel in der jeweiligen Stadt unterwegs und lernen deren Esskultur kennen. Statt in einer Mensa sitzt Grahek beinah täglich in einem Döner-Laden am Kottbusser Tor. Damit verhält sich die Kalifornierin zumindest ein bisschen so, wie sich die Gründer ihre Studenten vorstellen. Die sollten sich immer aktiv in die Stadt einbringen, in der sie gerade leben: mit Einheimischen in Kontakt treten oder soziale Projekte vorantreiben. Grahek fehlt dazu die Zeit. Letztendlich lebt sie dann doch in einer Uni-Blase - wenn auch in einer, die alle paar Monate ein Stück weiter um den Globus fliegt.

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SZ vom 19.12.2016/mkoh
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