Deutschlands Proteststadt:In Hamburg, da knallt es

Studentenatlas Hamburg

Rote Flora, Elbvertiefung, Gängeviertel: Hamburgs Protestkultur bietet nicht nur zur Walpurgisnacht jede Menge Potenzial für Wutbürger und Weltretter. Ein Glossar.

Von Moritz Herrmann

Am 1. Mai

Knallt es im Schanzenviertel. Das ist so verlässlich wie das Schlagen der Michelturmuhr. Die Tagesschau bringt einen Beitrag in betroffenem Ton, Polizei und Mai-Demonstranten geben sich gegenseitig die Schuld an der Eskalation, sondersitzende Parlamentarier debattieren im Rathaus. Der Schaden wird beziffert, dann ist wieder Ruhe. Bis zum nächsten Jahr.

Beginner

Speerspitze im Protest des linken Hamburg - auch wenn das letzte Album lange zurückliegt und Jan Delay mittlerweile Discomusik macht. Die Beginner, damals waren sie ja noch absolute, nannten ihr 1998er-Meisterwerk nicht grundlos Bambule. So hieß der wilde Bauwagenplatz, den Innensenator Ronald Schill (siehe: Richter Gnadenlos) 2002 räumen ließ, so wird Protest "gegen die da oben" in Hamburg immer noch umzärtelt. Zum 25-jährigen Jubiläum der Roten Flora (siehe: Flora, Rote) gaben die Beginner ein Gratiskonzert.

Chill mal

Muss es immer eskalieren? Nö, muss es nicht. Astra auf, an die Elbe setzen, sich im Stillen über all das ärgern, was in Hamburg schiefläuft. Prost, Digga. Es regnet nicht, das ist doch schon mal was. Und morgen auch noch ein Tag.

Degenhardt, Franz Josef

Ein Gigant, ein Protestpoet, singender Anwalt, bis zuletzt. Degenhardt war die Stimme der Unbequemen, in Hamburg und darüber hinaus. Verteidigte außerparlamentarische Oppositionäre, wurde aus der SPD geworfen, trat der Kommunistischen Partei bei. Früher Bänkellieder, dann radikaler: In Hamburg fiel der erste Schuss, Spiel nicht mit den Schmuddelkindern. Manchmal ein verkitschter Kampf, aber nie egal. Ein monströses Gesamtwerk von mehr als 30 Alben, ohne das es die "Goldenen Zitronen" nie gegeben hätte. Franz Josef Degenhardt verstarb neunundsiebzigjährig vor den Toren der Hansestadt.

Elbvertiefung

Es muss schon einiges zusammenkommen, um Krabbenfischer, Obstbauern, Wutbürger, linke Szene, Naturschützer und die evangelische Kirche an einer gemeinsamen Front zu versammeln. Die geplante Elbvertiefung hat es geschafft. Die Stadt will Containerschiffe mit 14,5 Meter Tiefgang in den Seehafen locken. Bund, Nabu und WWF sagen, das sei ökologisch nicht mehr vertretbar, nicht schon wieder. Denn sechsmal wurde die Elbe für größere Pötte schon ausgebaggert, zuletzt 1999. Ob und wann es zum nächsten Eingriff kommt, entscheiden jetzt die Gerichte.

Flora, Rote

Kulturzentrum, Konzerthaus, Denkfabrik, Keimzelle, Ruine, Trutzburg, Stachel, Schandfleck, Brennpunkt, Kuriosum, Faszinosum, Rigorosum. Seit 25 Jahren stimuliert der besetzte Florabau die Wortfindungsfinesse von Boulevard und Bevölkerung, seit 25 Jahren ist er der fette Mittelfinger im gentrifizierten Schanzenviertel. Sieht von außen aus wie in die Toilette gespült und wieder hochgeschäumt, von innen noch schlimmer. Die Flora wurde bemalt, behängt, bedrängt, 2007 bundesanwaltschaftlich durchsucht und 2008 polizeilich. Einzige Konstante war und blieb, dass die Flora war und blieb. Investor Klausmartin Kretschmer, dem das Gebäude eigentlich (noch) gehört, hatte wiederholt eine Räumung gefordert, angeblich sogar eine Brandstiftung in Auftrag gegeben und Stürmungspläne diskutieren lassen. Jetzt ist er insolvent, die Stadt will ihm das alte Theater abkaufen. Ein kurioses Ende: Die Stadt, der die Flora über Jahrzehnte ein Dorn im Auge war, die den Umbau zum Musicaltheater initiiert und den Verkauf an Investoren forciert hatte, rettet nun die Baracke.

Gängeviertel bis OZ

Gängeviertel

Es war der 22. August 2009, ein Samstag, als knapp 200 Leute aufbrachen, zwei kleine Gassen im Herzen Hamburgs zu besetzen. Die Stadt hatte das historische Gängeviertel einem holländischen Investor zugeschlagen, der Sanierung, also eigentlich Abriss, ankündigte. Heute dürfen diese Pläne als verhindert betrachtet werden. Das Manifest "Not in Our Name" sowie die Initiative "Komm in die Gänge" setzten sich für eine Selbstverwaltung der Räume ein. Unter dem öffentlichen Druck kaufte die Stadt die Gassen vom Investor zurück, übergab die Gebäude der Gängeviertel-Genossenschaft. Jeder Hamburger kann Anteile zeichnen, Mitglied werden, mitmachen. Heute beherbergt das Gängeviertel Konzerte, Kunst, Kultur und Projekte.

Hafenstraße

Bezeichnung für mehrere besetzte Häuser in St. Pauli. Die Hafenstraßenbewohner wollten ihre Häuser selbst sanieren. Gerät und Gerüste wurden ihnen geklaut, wieder und wieder der Strom abgestellt. 1987 scheiterten die Verhandlungen mit dem Senat, der das Wohnprojekt daraufhin räumen lassen wollte. Es kam zu Barrikadenkämpfen zwischen Bewohnern und Polizei, viele Hamburger solidarisierten sich mit den Hafenstraßlern, der Senat gab auf. Bis heute heben sich die bemalten, mit Transparenten behängten Häuser von der Umgebung ab wie eine Beule in der Zeit.

Ist der Hanseat nicht ganz anders?

Er gilt als Ehrenmann, diskret bis zur Verschlossenheit, Kragen hoch, Kopf runter. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Brennt ihm etwas auf der Seele, kann der Hanseat, der Hamburger zumal, auch ganz anders. Dann entsteigt er seinem inneren Exil, redet mehr als sonst, nicht nur mit sich selbst. Dann wallt Hitze durch den kühlen Nordler (siehe: Chill mal). Obacht, dann!

Ja zum Nein

Stromanbieter Vattenfall ist verrufen, seit er ein Kohlekraftwerk an die Elbe gestellt hat. Die Grünen nahmen dem Konzern das offizielle Sponsoring für die Umwelthauptstadt Hamburg weg, Bürgerprotestler boykottierten die Vattenfall Lesetage mit einem Gegenprogramm: Lesetage selber machen - Vattenfall tschüß sagen! Das las sich ganz gut.

Klobürste, die

Verselbstständigte sich zum Symbol gegen das Gefahrengebiet, das die Stadt nach Protesten für den Erhalt der Roten Flora im Januar 2013 auf St. Pauli und im Schanzenviertel einrichten ließ. Um die ständigen Taschenkontrollen der Polizei ad absurdum zu führen, packten Anwohner allerlei Lächerliches ein. Als ein jungen Mann vor laufender Kamera kontrolliert und seine Klobürste konfisziert wurde, ging das im Internet steil. Die Klobürste, sie wurde zum Zeichen für Unsinn und Willkür im Gefahrengebiet. Wochenlang ist in keiner Drogerie und keinem Supermarkt auf St. Pauli eine Bürste zu bekommen, überrumpelte Filialleiter melden den totalen Ausverkauf. Am 13. Januar 2014 löste die Polizei das Gefahrengebiet auf.

Lampedusa

Selten hat ein Anliegen die Hamburger so beschäftigt wie der Kampf der Lampedusa-Gruppe um Aufenthalt. 300 Afrikaner, nach einer Odyssee über Libyen, das Mittelmeer und Italien in Hamburg gestrandet, ringen seit März 2013 mit der SPD-Regierung, prominent unterstützt von Fatih Akin, Bela B. und Jan Delay. Bis heute ist der Konflikt nicht gelöst, etlichen Demos und Verhandlungsrunden zum Trotz. Die Stadt verweigert Zugeständnisse, die "Lampedusas" hoffen weiter. Ausgang offen.

McDonald's

Irgendwann war dieses Gerücht da. Dass die Burgerkette eine Filiale in der Schanze eröffnen will. Aber das wäre ja undenkbar. Oder? Dann wurde das Gerücht konkreter, und im Sommer 2009 zog McDonald's tatsächlich ein in den S-Bahnhof. Mit Polizeistaffel, extradicken Scheiben und stiernackigem Wachdienst. So richtig schien man der eigenen Standortwahl nicht zu trauen. Mehrfach wurde die Filiale seither das Ziel von Protesten. Sie ist trotzdem geblieben.

Neues Viertel am Hafen

Das größte Stadtentwicklungsprojekt in Nordeuropa, Spielwiese für zig in Glas und Glanz verliebte Architekten - weil sofort klar war, dass sich kein Normalverdiener die Mieten leisten kann, war die HafenCity ein Aufreger. Mittlerweile fliegen nicht mehr ganz so viele Farbbeutel - trotz Fun Facts wie dem, dass ein HafenCity-Bewohner im Schnitt drei Autos in seiner Garage parkt.

OZ

Hamburgs bekanntester Sprayer verstand seine Bilder, sein ewiges OZ und die Smileys, als Protest gegen eine Stadtpolitik, die alles steril haben wollte und genormt. Der Boulevard verhöhnte ihn als Schmierfink, eine S-Bahn-Wache prügelte ihn fast tot. OZ wurde verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, immer wieder, für acht Jahre insgesamt. OZ, der eigentlich Walter F. hieß, malte weiter. Mehr als 120 000 Graffitis in Hamburg. Bunter wollte er die Stadt machen. Kam im September ums Leben, nachdem ihn eine S-Bahn erfasste - beim Sprühen natürlich.

Protestkulturwoche bis Urban Gardening

Walpurgisnacht in Hamburg

Wenn Flaschen fliegen: Ein Laden im Schanzenviertel schützt seine Schaufenster mit Spanplatten.

(Foto: dpa)

Protestkulturwoche

Eine ganze Woche dem Widerstand widmen, in Hamburg geht das. Genauer: auf St. Pauli. Mit Ausstellungen, Diskussionen, Vorträgen, Aktionen. Aber warum zuletzt 2013 und seither nicht mehr? Der Esso-Häuser-Komplex auf der Reeperbahn ist abgerissen, die Clubkultur bedroht, das Mietpreisniveau steigt. Es wird mal wieder Zeit. Und sei es nur, um die großartige Karte bedrohter Orte unter www.protestkulturwoche.de zu aktualisieren.

Quadratmeterpreise

Die Initiative Leerstand zu Wohnraum protestiert in Hamburg gegen den Bürobauboom und explodierende Mieten. Längst sind 15 Euro und mehr keine Ausnahme mehr im Norden. Zu einer Demonstration strömten 7000 Wütende, Bürobesichtigungen werden regelmäßig durch Nackthappenings gestört. Es gibt Aktionstage wie "Schlaflos in Hamburg?", "Raven gegen Wohnungsnot" und "Suchst du noch oder wohnst du schon?".

Richter Gnadenlos

Ronald B. Schill, heute Containergelegenheitsbewohner und TV-Rüpel, war mal die Hassfigur der Hamburger Linksszene - und nährte sich, davon muss ausgegangen werden, von diesem Hass. Von Bürgermeister Ole von Beust zum Innensenator ernannt, ließ der Rechtspopulist jeden verhaften, der ihm verdächtig erschien: Dealer, Taubenfütterer, Asylbewerber, Pfandsammler. Baute die erste Geschlossene für straffällige Jugendliche und hätte gerne todbringendes Betäubungsgas aus Moskau angefordert. Dafür widmeten ihm die Beginner das Lied "Chili-Chil Bäng Bäng", Fettes Brot besang mit Bela B. das Hamburger Tanzverbot.

Studenten

Der AStA der Universität Hamburg hat einen Protestherbst angekündigt. Muss das denn sein, könnte man nun sagen, Studenten haben doch sowieso schon genug nebenher zu tun: feiern, trinken und schlafen beispielsweise. Muss aber trotzdem sein - weil die Lehre in Hamburg, findet der AStA, kaputtgespart wird. Die Zahl der Lehrveranstaltungen sinkt bis 2016 um knapp 1000, 400 Studienplätze weniger wird es geben und dazu steigende Kosten. Mehr Geld aus der öffentlichen Hand fordert die studentische Vertretung deshalb und ruft zu Vollversammlung und Demonstration an der Alster auf. Das Timing ist nachvollziehbar: Im Dezember verhandelt die Hamburger Bürgerschaft den neuen Haushalt, im Februar 2015 finden Bürgerschaftswahlen (siehe: Widerstand bei der Wahl) statt.

Tanzende Türme

Manchen gilt der kühne Wurf vom notorischen Hamburgbebauer Hadi Teherani als Geniestreich, anderen sind seine tangotanzenden Türme auf der Reeperbahn glasgewordenes Symbol für eine stadtplanerische Bankrotterklärung (siehe: Protestkulturwoche). Die unzähligen Büroetagen wurden von Baufirma, Marketingagentur, High-End-Restaurant, Hotel und Mojo-Club bezogen. Früher stand an gleicher Stelle das Mandarin-Casino. Wann immer sich in der Gegend Demonstrationszüge wider die Mietspirale ankündigen, leitet die Polizei selbige in großem Bogen um die Türme um.

Urban Gardening

Politischer Protest, der sich als niedliche Gemeinschaftsgärtnerei tarnt, in Hamburg von den Gartenpiraten gebündelt. Beim Urban Gardening wird ein Recht auf Stadt formuliert - zum Beispiel bei "Hof vorm Deich", auf einem Tiefgaragendeich an der Großen Freiheit oder in der "Keimzelle" im Karoviertel. Letztere wollte auf dem Gelände der neuen Rindermarkthalle eine riesige Grünfläche bewirtschaften, wurde sich aber nicht einig mit den Betreibern der Halle. Stattdessen zog ein gigantischer Edeka ein und kleine, feinkostige Läden. Der nächste Gentrifizierungsmotor?

Volksentscheid bis Zu wenig Geld für Kultur

Volksentscheid, der

Große Bürgerbefragung, die oft aus kleinem Protest geboren wird. Kam in Hamburg zuletzt immer häufiger vor. Im Oktober 2013 zwang ein solcher Entscheid die Stadt, das Stromnetz von Vattenfall (siehe: Ja zum Nein) zurück zu kaufen. Die Initiative gegen die schwarz-grünen Schulreformen erreichte das notwendige Quorum, auch die elbüberquerende Seilbahn wurde durch einen Bürgerentscheid verhindert. Bei den Krankenhäusern blieb die Stadt hart - sie verkaufte an Asklepios, obwohl die Mehrheit gegen einen Verkauf votiert hatte.

Widerstand bei der Wahl

In Hamburg taugt die vierjährliche Wahl als Sensor für die Befindlichkeiten der Bürger. Im Krieg-gegen-den-Terror-Zeitalter wählte man die SPD ab und Hardliner Schill (siehe: Richter Gnadenlos) zum Senator, danach paktierten hier die Grünen mit der CDU, es war ein Experiment - und sollte scheitern. Am Ende kündigten die Grünen die Koalition auf. Und Hamburg kehrte desillusioniert zurück zu einem Alleinregiment der SPD.

X-mal mehr als geplant

Kostet in Hamburg vieles, allen voran die Elbphilharmonie. Das Luftschloss an der Hafenkante wurde einst mit 77 Millionen veranschlagt. Mittlerweile haben sich die Kosten verzehnfacht, die Eröffnung ist von 2010 auf 2017 verschoben. Im Mai 2014 wollte Blockupy den Skandalbau stürmen, das Richtfest 2010 sabotierten als Römer Verkleidete mit Transparenten und Gesängen. An die genervt gerunzelte Stirn von Ole von Beust erinnert man sich in der linken Szene immer noch gern.

YouTube

Das Internet hat den Bürgerprotest vernetzt, auch in Hamburg. Gleichzeitig befördert das Web einen sogenannten Slacktivism: Es gibt viele, die ihr Like auf Facebook oder Kommentare bei YouTube schon für Protestbeteiligung halten, und es dabei belassen. Während der friedlichen Aktionen gegen das Gefahrengebiet (siehe: Klobürste, die) wurde YouTube mit Videos geflutet, die das Vorgehen der Polizei dokumentierten.

Zu wenig Geld für Kultur

Ist Hamburg eine Kulturstadt? Natürlich, es gibt die Musicals am Hafen, den König der Löwen, das Operphantom, Tarzan, das Wunder von Bern. Es gibt eine Konzert- und Clubvielfalt, die nur noch von Berlin getoppt wird. Es gibt das Thalia Theater, das Schauspielhaus, die kleineren Bühnen. Und es gibt Leute, die sagen, dass das nicht reicht. Dass das Aufgezählte siecht, länger schon. Der Senat hat die Filmförderung geschrumpft, das Altonaer Theater beinahe geschlossen, das Schauspielhaus unterfinanziert. Kulturschaffende wie Daniel Richter reagierten mit ihrem symbolischen Wegzug aus der Stadt. Die Betriebsräte der Theater machten ihrer Verzweiflung in einem offenen Brief an die Stadt Luft. Nur eine Kultur ist in Hamburg noch längst nicht gestorben: die Protestkultur.

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