Deutscher Schulpreis:Lernen bei den Hippies von Schüttorf

Nominierung Deutscher Schulpreis - Grundschule auf dem Süsteresch

Auch auf dem Pausenhof der Grundschule auf dem Süsteresch entscheiden die Schüler selbst, womit sie sich wann beschäftigen.

(Foto: Friso Gentsch/dpa)
  • Die Grundschule im niedersächsischen Schüttorf ist der Gewinner des Deutschen Schulpreises 2016.
  • In Schüttorf versuchen die Verantwortlichen, die Schule den Bedürfnissen der Kinder anzupassen.
  • Die Auszeichnung ist ein Hinweis, welcher Trend in Schulen nach Expertenansicht wichtig wird.

Von Johann Osel, Schüttorf

Wenn Heinrich Brinker durch seine Grundschule geht, ist er keine Sekunde allein. Einzeln oder in Trauben stürmen die Kinder auf ihn zu. Manche mit einer Frage, ein türkischstämmiger Junge mit Harry-Potter-Brille will wissen, wo Eurasien liegt. Andere fallen Brinker einfach um den Hals. Oder der Schulleiter geht auf Kinder zu. "Wie heißt die Regel im Haus?", fragt er. "Nicht rennen", presst ein Junge, der eben wild gerannt war, verschämt durch die Zahnlücken.

Die Grundschule auf dem Süsteresch im niedersächsischen Schüttorf ist ein Taubenschlag, ständig in Bewegung - und das ist hier das Prinzip. In Selbstlernphasen entscheiden die Kinder, womit sie sich wann und wo beschäftigen, gehen dann in Lernateliers. "Man kann nicht mehr alle zu jeder Zeit das Gleiche machen lassen", sagt Brinker. Frontalunterricht gibt es hier eh nicht. Stattdessen: Lernen nach Interessen, eigenem Tempo, der Lehrer wird zum "Lernbegleiter". Und das in einer Schule für alle. Wirklich alle.

Das Konzept erhält nun den ersten Platz beim Deutschen Schulpreis, es ist sozusagen der Titel "Beste Schule der Republik". Die Auswahl ist stets ein Hinweis, welcher Trend in Schulen nach Expertenansicht wichtig wird. Individueller Unterricht gilt gerade als Zauberformel der Bildungspolitik. Im Schüttorfer Schulprofil steht: "Wir versuchen nicht, die Kinder passend für die Schule zu machen, sondern eine passende Schule für die Bedürfnisse der Kinder zu bauen." Die Schülerschaft ist heute tatsächlich bunt wie nie - Herkunft, Milieu, familiäre Bedingungen, hinzu kommt die Inklusion, gemeinsamer Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung.

Aber hier in Schüttorf, plattes Land, letzte Ecke Niedersachsens vor der niederländischen Grenze? "Landidylle?" Brinker lacht, es sei "der gleiche Mix wie in Hamburg", wo er früher unterrichtete. Migration ist Alltag, Kinder von türkischen Arbeitern der früheren Textilindustrie, Russlanddeutsche, Flüchtlinge; man hat Kinder aufgenommen mit Verhaltensstörungen, geistigen Behinderungen. Und dass die Provinz frei von sozialen Schieflagen gedeiht, ist sowieso ein Märchen. Man habe sich früh an die Realität angepasst. Brinker glaubt nicht, dass die "Zwangshomogenisierung" im System Bestand haben wird.

Individualität - in Schüttorf ist sie in den Klassen zu sehen, leichte Holzbänke, schnell verschiebbar, Gruppentische. Und eben Ateliers quer durchs Schulhaus, die Kinder entscheiden, wo es hingeht: in die "Baubude", wo mit Holz ein Gespür für Größen und Maße entstehen soll; oder ins Forschungslabor mit Themenkästen über Regenwurm und Steinzeit. Am Ende der Selbstlernphasen muss jeder in der Gruppe präsentieren, was er gemacht hat. Einer moderiert, ebenso läuft es im Klassenrat.

"Jeder kann was sagen, was Gutes, was Schlechtes, egal"

Ein blondes Mädchen erzählt, wie dieses Gremium abläuft. "Jeder kann was sagen, was Gutes, was Schlechtes, egal." Gibt es etwas Schlechtes an der Schule? "Der Streit am Klettergerüst, da waren immer super viele Kinder drauf", meint sie gleich. Die Kinder beschlossen, öfter zu warten, bis das Gerüst für andere langweilig wird. Eigenständigkeit und Verantwortung will die Schule fördern. Der Lehrer - Lernbegleiter - soll wenig Anweisungen geben in einem Klima des Vertrauens; er diagnostiziert aber sehr wohl den Stand, schaut, welche Hilfen nötig ist, etwa Leseförderung.

In einem Raum findet Kunst statt. Ein autistischer Junge sitzt rechts am Fenster. Während die anderen die Malkästen leermalen für einen Wassermann, blau, grün, weiß, sitzt er einfach da. Jetzt ist er in seiner eigenen Welt, versucht sich das Wasserglas an den Kopf zu schlagen. Ein Förderlehrer, zusätzlich im Raum, redet ihm zu. "Man kann nur Angebote machen", erzählt der Pädagoge. "Es gibt Tage, da geht nichts; und dann schreibt er zum Beispiel ganz schnell eine Geschichte." Dass der Junge hierher gehört, dass alle davon profitieren - feste Überzeugung in Schüttorf.

Ausgezeichnet

Die Robert-Bosch-Stiftung schreibt den Deutschen Schulpreis seit nun zehn Jahren aus. Es ist die bekannteste Ehrung dieser Art. Die Expertenjury bewertet unter anderem: Leistung, Umgang mit Vielfalt, Unterrichtsqualität, Schulleben. Der mit 100 000 Euro dotierte erste Platz geht an die Grundschule auf dem Süsteresch in Schüttorf/Niedersachsen. Zweite Preise erhielten am Mittwoch die Schule für Erwachsenenbildung Berlin, das Humboldt-Gymnasium Potsdam, die Freiherr-vom-Stein-Gemeinschaftsschule Neumünster sowie die Schule St. Nicolai auf Sylt. SZ

Am Anfang der Entwicklung stand ein Arbeitskreis der Lehrer. Und bald kam die Einsicht: Man kann Lernen nicht von der Raumfrage trennen. Behörden sind da so flexibel wie eine Betonwand, feixen sie im Kollegium. Man machte einfach. Um eine Schule zu entwickeln, braucht es ohnehin Management-Geist - Förderprojekte und Töpfe anzapfen, Kooperationen suchen, Eltern einbinden. Brinker sagt: "Es kann nicht sein, dass sich an einer Schule nichts bewegt außer die Eingangstür." Wobei der Ansporn zur Bewerbung auf den Schulpreis von außen kam. Als die staatliche Schulinspektion da war, gab es ein sehr gutes Zeugnis: Unterricht, Klassenklima, Motivation, Lernergebnisse. Und es gab den Tipp: Bewerben Sie sich auf Wettbewerbe!

Die Jury des Schulpreises meint jetzt: In Schüttdorf haben sie sich "beispielhaft auf den Weg gemacht, das Lernen zu verändern" und erzielen "beeindruckende Leistungen". Reformschulen geraten ja schnell in Verdacht, ein Refugium zu sein, in dem am Ende wenig gelernt wird. Doch bei Leistungstest liegt die Schule ein Drittel über dem niedersächsischen Schnitt. Das Labor auf dem Land funktioniert auch nach klassischen Kategorien. Zu Beginn herrschte schon Skepsis bei Eltern, alles war ungewohnt. Im Ort raunt mancher noch über die "Schulhippies". Meist hätten sich Vorbehalte gelegt, sagt Brinker: "Kinder spüren, wenn sie mit allen Kanten willkommen sind. Und es gibt für Eltern nichts Schöneres, als zu sehen, dass ein Kind aufblüht."

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