Deutscher Schulpreis:Klassenlose Gesellschaft in Greifswald

Martinschule Greifswald

Frontalunterricht gibt es nicht an der Martinschule, das erkennt man schon an den sechseckigen Tischen, an denen diese Schüler Englisch lernen.

(Foto: Bernd Wüstneck/dpa)

Die Martinschule zeigt, wie Inklusion gelingt, erhält dafür den Deutschen Schulpreis - und leidet unter den Leistungsvorgaben des Ministeriums.

Von Thomas Hahn, Greifswald

Benjamin Skladny war lange dagegen. Der Leiter des Evangelischen Schulzentrums Martinschule in Greifswald hat oft gehört, sein Haus solle sich für den Deutschen Schulpreis bewerben, weil es Kinder mit und ohne Behinderung so reibungslos zusammenbringe. Aber Skladny wollte nicht. Er ist kein Fan des deutschen Schulsystems, er findet, es müsste seine starren Leistungsansprüche überdenken. Er sagte: "Wenn innerhalb eines solchen Systems Preise vergeben werden, weiß ich nicht: Was soll dabei rauskommen?"

Aber er sah auch, dass sich keine Schule seinem Konzept anschloss. Also stimmte er der Bewerbung letztlich doch zu, und jetzt, da die Martinschule den Preis tatsächlich gewonnen hat, sieht Skladny den Erfolg als Chance: "Vielleicht wirkt das auf andere."

Genau das ist das Ziel des Deutschen Schulpreises, den die Stiftungen Robert Bosch und Heidehof seit 2006 vergeben: Aufmerksamkeit für neuartige Unterrichtskonzepte zu schaffen, zu einer Kultur des klugen Querdenkens beizutragen. Die ausgezeichnete Schule bekommt deshalb nicht nur 100 000 Euro, sondern wird Teil eines Netzwerks aus weiteren prämierten Schulen, die ihre Ideen und Erfahrungen in Workshops, Seminaren und Hospitationsprogrammen teilen soll.

"Sie müssen alles vergessen, was Sie über Schule wissen", sagt Schulleiter Benjamin Skladny

Greifswald also. Eine Schule aus dem strukturschwachen Mecklenburg-Vorpommern zeigt, dass das umstrittene Prinzip der Inklusion funktioniert, wenn Eltern, Lehrer und ein freier Träger den Mut haben, etwas ganz Neues zuzulassen. Bevor Skladny die Martinschule erklärt, sagt er: "Sie müssen alles vergessen, was Sie über Schule wissen - außer dass Kinder und Erwachsene dazugehören."

Skladny, 56, kam 1992 nach Greifswald. Sein Auftrag damals: Aus einer Fördertagesstätte der kirchlichen Johanna-Odebrecht-Stiftung eine Schule für Kinder mit geistiger Behinderung aufbauen. Skladny wollte, dass die Kinder mit Behinderung mitten in der Stadt zur Schule gingen, damit sie Kontakt zu Nichtbehinderten hatten. So bezog die neue Schule das Gebäude einer früheren Kita im Plattenbau-Wohngebiet Schönwalde I und wurde dort über die Jahre das, was sie heute ist: eine integrierte Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe, die nicht nur die Teilhabe von Kindern mit Behinderung ermöglicht, sondern auch Abschluss-Ergebnisse bei Abitur und Mittlerer Reife vorlegt, die seit Jahren über dem Landesdurchschnitt liegen.

Frontalunterricht gibt es hier nicht

553 Schülerinnen und Schüler sind hier, mehr als 100 von ihnen haben eine geistige Behinderung. Sie lernen immer nur in dem Tempo, das ihre Begabung zulässt, und nach Zielen, die sie sich mit Lehrern und Eltern selbst gesteckt haben. 160 Erwachsene kümmern sich um sie, Lehrkräfte, Integrations- und pädagogische Unterrichtshilfen. Noten gibt es bis zur achten Klasse nicht, Klassen teilweise auch nicht.

Skladny nimmt einen Kugelschreiber und malt das Schema seiner Schule: In der ersten bis zur vierten Jahrgangsstufe gibt es jeweils drei Klassen. Immer 18 Kinder, von denen mindestens drei, maximal vier einen "Förderbedarf geistige Entwicklung" haben; ihre Klassenzimmer mit Kochnische und einem Nebenraum. "Die Unterschiede zwischen den Kindern werden mit jeder Klassenstufe größer", sagt Skladny, "deshalb gibt es ab der fünften keine Klassen mehr. Diese 54 Kinder kommen in fünf Stammgruppen." Er zeichnet vier breite Balken untereinander für die Stufen fünf bis acht und unterteilt jeden Balken in fünf Teile. "Jede dieser Stammgruppen hat eine Lehrkraft, diese fünf Lehrer halten den kompletten Unterricht." Die Schüler treffen sich alle zum Morgenkreis, machen ihren Plan für den Tag und setzen diesen Plan dann bei einem der fünf Lehrer in einem der fünf Räume um. "Das Frontale, einer redet, alle machen das gleiche - das gibt es gar nicht", sagt Skladny.

Eine Stammgruppe der fünften Jahrgangsstufe hat gerade Englisch. Die Schülerinnen und Schüler machen Rollenspiele. Wer nicht spielt, sitzt zwischen Regalen und Topfpflanzen an sechseckigen Tischen. Dass Kinder mit geistiger Behinderung dabei sind, fällt nicht auf. Alles wirkt ein bisschen durcheinander, aber das täuscht.

"Komm mal mit", sagt ein Schüler und zeigt den Stundenplan, der an einem Regal aushängt: Bis 14.15 oder 15.30 Uhr dauert der Unterricht. Klassische Fächer sind noch da, aber sie verteilen sich anders. Der Mittwoch etwa besteht fast komplett aus Englisch-Unterricht. Mathematik- und Deutschstunden sind unterteilt in Themen-Angebote wie "Rechtschreibtraining", "Fabeln" oder "Umrechnen, Bruchrechnen", "Geometrie". Und jedes Kind hat sein Schreibbuch, in das es hineinschreiben kann, was es will, Gedanken, Gedichte, Geschichten. "Ich musste mich daran gewöhnen", sagt ein Junge. Er ging erst in Brandenburg zur Schule. Dort fragte niemand, woran er gerne arbeiten würde. Er mag die Martinschule. "Man hat mehr Freiheit. Man kann mehr Freunde finden, weil man nicht immer in einer Klasse sitzt."

Schulleiter Skladny sagt: "Wir überlegen gerade, wie es in den Klassenstufen neun, zehn, elf, zwölf weitergeht." Im Moment teilt sich die Schülerschaft nach der achten Klasse auf. Die Nichtbehinderten bereiten sich auf Mittlere Reife oder Abitur vor, die Mitschüler mit Behinderung in einer eigenen Klasse auf Berufs- und Lebensalltag. Die Martinschule hat dafür eine Wohnung gemietet, eine Schülerfirma gegründet, eine Kaufhalle zum Anschlussstufenzentrum umgebaut. Skladny würde beide Gruppen gerne mehr verzahnen, aber die Leistungsvorgaben vom Ministerium machen das schwer. "Wie können wir die Widersprüche auflösen, die nicht aufzulösen sind?", fragt Benjamin Skladny. Vielleicht hat der nächste Schulpreis-Träger die zündende Idee.

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