Grundschul-Debatte:"Man kann nicht einfach bestimmte Kinder von der Schulpflicht ausschließen"

Einschulung in Brandenburg

Was ist ein Feuerwehrauto? Welche Obstsorten gibt es? Manches Kind mit ausländischen Wurzeln steht ratlos vor solchen Fragen.

(Foto: dpa)

Zur Schule darf erst, wer Deutsch spricht? Die Lehrerin Heidrun Quandt hält nichts von der Idee. Alarmiert ist sie trotzdem.

Interview von Ekaterina Kel, Berlin

Die Worte des Christdemokraten Carsten Linnemann über Kinder, die schlecht Deutsch können, haben schnell polarisiert: "Ein Kind, das kaum Deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen", hatte er in einem Interview am Montag gesagt. In solchen Fällen müsse eine Vorschulpflicht greifen, notfalls müsse die Einschulung zurückgestellt werden. Politiker und Verbandssprecher meldeten sich sogleich zu Wort. Doch was sagt jemand aus der Praxis? Heidrun Quandt ist seit 40 Jahren Grundschullehrerin im Berliner Bezirk Neukölln. In einem Punkt gibt sie Linnemann recht.

SZ: Frau Quandt, müssten bei uns "alle Alarmglocken schrillen", wie Carsten Linnemann gesagt hat?

Heidrun Quandt: Die hätten schon längst schrillen müssen. Aber man kann nicht einfach bestimmte Kinder von der Schulpflicht ausschließen, wie er es vorgeschlagen hat. Es gibt diese Schulpflicht, wir können gar keine Kinder zurückstellen. Die Schulfähigkeit nur an der Sprache festzumachen, ist außerdem sehr heikel.

Sie sind Lehrerin an einer Grundschule. Gibt es bei Ihnen viele Kinder, die unzureichende Deutschkenntnisse haben?

Ich unterrichte seit 40 Jahren an der Oskar-Heinroth-Grundschule in Neukölln. Unsere Klassen sind sehr gemischt: Kinder, deren Eltern zwar selbst Migrationshintergrund haben, die aber zweisprachig erzogen werden und ganz gut Deutsch können. Aber auch Kinder, die Deutsch ausschließlich aus der Schule kennen. Zu Hause wird Türkisch, Arabisch oder eine andere Sprache gesprochen. Selbst der Fernseher ist darauf ausgerichtet.

Woher wissen Sie das?

Ich habe einmal den Kindern aufgegeben, sich einen Werbespot anzuschauen und ihn zu beschreiben. Ein Junge kam zu mir und sagte: Ich kann da leider nicht mitmachen. Sie hätten nur türkisches Fernsehen zu Hause. Das ist nur eine kleine Anekdote, aber die beschreibt natürlich ein Problem.

Interview am Morgen

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Welches?

Es fängt schon bei den ganz einfachen Dingen an. Manche Kinder kennen die deutschen Begriffe einfach nicht: Was ist ein Feuerwehrauto, welche Obstsorten gibt es? Auch beim Satzbau haben viele ein Problem. In sogenannten Willkommensklassen für Flüchtlingskinder wird dann so etwas aufgefangen. Dort bekommen die Kinder Deutschunterricht, bis sie in eine deutsche Schulklasse integriert werden können. Aber bei Kindern, deren Großeltern nach Deutschland eingewandert sind, ist das anders.

Linnemann hat vorgeschlagen, sie im Fall unzureichender Deutschkenntnisse erst einmal nicht zur Schule gehen zu lassen.

Das ist eine Form der Diskriminierung, die hilft keinem weiter. Wir müssen viel früher ansetzen, schon bevor diese Kinder eingeschult werden. Mit einer Sache hat Linnemann recht: Es muss wirklich etwas getan werden.

Er schlägt eine Vorschulpflicht vor.

Wir hatten so etwas früher in Berlin. Meiner Meinung nach hat es gut funktioniert. Es gab kleine Gruppen mit Kindern mit und ohne Migrationshintergrund. Leider wurde das von der Bildungssenatorin durch ein Kita-Bildungsprogramm ersetzt, aber das funktioniert nicht.

Heidrun Quandt.
Foto: VBE Berlin

"Wir brauchen dringend die Vorklassen zurück", sagt Heidrun Quandt. Die Grundschullehrerin ist im Vorstand des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) in Berlin und dort auch für den Bezirk Neukölln verantwortlich.

(Foto: VBE Berlin)

Würden aus Ihrer Sicht verpflichtende Deutschkenntnisse ab der ersten Klasse helfen?

Das ist gar nicht durchzusetzen. Wir brauchen stattdessen dringend die Vorklassen zurück, am besten verpflichtend für alle. Um dort erst einmal alle mit der deutschen Sprache vertraut zu machen. Ob die mit Deutsch aufwachsen oder nicht, ist egal. Das wäre für alle Kinder gut.

Das klingt so, als ob man auch gleich eine Klasse vornedran hängen könnte.

Das wäre nicht dasselbe. Das Lernen in der Vorschule ist ein anderes Lernen als nachher im Grundschulunterricht. Die Kinder können auch noch malen, spielen, basteln, aber eben auch spielerisch Vokabeln lernen, zum Beispiel.

Laut Linnemann sinkt das Niveau an staatlichen Schulen wegen der Kinder, die die deutsche Sprache nicht so gut können.

Das Niveau sinkt schon lange. In Berlin braucht man sich nur die Vergleichsarbeiten anzuschauen oder die Abschlussquoten. Das ist ein ganz allgemeines Phänomen. Das liegt auch ein bisschen daran, dass hier in Berlin das Wort Leistung leider negativ besetzt ist. Aber es hat nichts mit der Herkunft der Schüler zu tun. Ich habe Top-Schüler aus dem Ausland, auch türkische und arabische.

Sprechen bei Ihnen die Schüler Türkisch oder Arabisch untereinander?

Sie versuchen es, aber wir verweisen darauf, dass bei uns Deutsch gesprochen wird. Das hat auch damit zu tun, dass die Kinder sich selbst nicht als Deutsche begreifen.

In der dritten Generation?

Einmal habe ich mitbekommen, dass ein Junge sauer war, weil sein Mitschüler den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan beleidigt habe. Ich fragte: Was hast du denn mit Erdoğan zu tun? Er sagte: Ich bin Türke. Aber das stimmt nicht. Er ist Deutscher, in Deutschland geboren, mit deutschem Pass. Anfang der 70er habe ich viel mit Gastarbeiterkindern gearbeitet, das war eine andere Klientel. Oft hatten die Eltern studiert, Realschule oder Gymnasium war das Ziel für ihre Kinder. Bei meinen jetzigen Kindern geht es oft darum: Hauptschule oder gar kein Abschluss.

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