Süddeutsche Zeitung

Demokratie-Erziehung:Nicht auf dem Radar

Staatliche Stellen finanzieren Jugend-Bildungsprojekte der islamischen Gülen-Bewegung. Doch die hat zum Teil fundamentalistische Motive.

Von Stefanie Schoene

Die Fußgängerzone in Essen an einem Samstag im Juli. Corona ist gefühlt auf dem Rückzug, Menschen füllen die Einkaufsstraßen. Mittendrin, gegenüber der Domschatzkammer und in Sichtweite der Alten Synagoge hat der Verein Erziehung und Bildung ohne Grenzen Ruhr (EBG) einen Infostand aufgebaut. Vier freundliche Frauen in islamisch korrekter Kleidung kümmern sich um interessierte Passanten und bewerben die Jugendarbeit des Vereins. Stolz sei man vor allem auf das Projekt "Jugend sozial und aktiv" (Jusa), das für Ferienlager und die Ausbildung von Jugendleitern steht. "Wir sind ein Teil der Stadt Essen. Wir vermitteln unseren Jugendlichen Bildung und demokratische Werte", erklärt eine der Frauen, die sich als Essener Realschullehrerin vorstellt.

Für sein Jusa-Projekt erhielt der Verein zwischen 2017 und 2019 insgesamt 180 000 Euro aus dem Bundesprogramm "Demokratie leben!", wie das Bundesfamilienministerium auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung mitteilt. Das erklärte Ziel des Programms: "Multiplikatorinnen und Multiplikatoren für islamistische Haltungen und Einstellungen unter Jugendlichen zu sensibilisieren."

"Demokratie leben!" ist laut Familienministerium ein europaweit einzigartiges Programm, das junge Menschen für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gewinnen und gegen Demokratiefeindlichkeit wappnen soll. Mehr als 431 Millionen Euro hat das Ministerium seit 2015 dafür ausgegeben. Doch die Investition hat ihm nicht nur Lob eingebracht. Insbesondere Förderprojekte zur Vermeidung religiöser Radikalisierung bei muslimischen Jugendlichen standen bereits in der Kritik - beispielsweise wegen Zweifeln an ihren Trägern, 2016 etwa einem hessischen Verband, der der Muslimbruderschaft nahesteht.

Auch an dem EBG-Programm Jusa sind Zweifel angebracht, wie SZ-Recherchen nun zeigen. Denn obwohl der Verein es in seinem Förderantrag verschwieg und auch sonst nicht öffentlich erwähnt: Er ist religiös motiviert und gehört der Gülen-Bewegung an. Das Netzwerk des islamischen Predigers Fethullah Gülen ist in Deutschland bekannt, weil die türkische Regierung es für den gescheiterten Putsch im Jahr 2016 verantwortlich macht. Seitdem werden Anhänger verfolgt, sitzen zu Tausenden in Haft. Und viele flohen, allein 2019 baten 5000 in Deutschland um Asyl. Die Frauen am Infostand in Essen streiten die Zugehörigkeit ihres Vereins zu der Bewegung nicht ab. Sie behaupten aber, ihre Bildungsarbeit habe mit Religion nichts zu tun.

Die Religion sei weltlichen Systemen wie der Demokratie überlegen, postuliert ein Text

Dagegen spricht ein Grundsatzpapier der Jugendabteilung des EBG. In seiner "Handreichung für die praktische Jugendarbeit" gibt der Verein auf 40 von 90 Seiten Einblick in seine normativen Werte: "Die Religion beschäftigt sich ganzheitlich mit dem Wesen und dem Leben des Menschen. Weltliche Systeme hingegen sind einem ständigen Wandel unterworfen. Sie können nur in Bezug auf die Zeiten, in denen sie dominieren, beurteilt werden", heißt es in dem Kapitel "Vielfältiger Islam". Nach dieser Gegenüberstellung fährt der Text fort: "Der Glaube an einen Gott, das Jenseits, Propheten, Offenbarungsschriften, Engel und die Vorherbestimmung unterliegen hingegen keinem Wandel. (Wir) dürfen dabei nicht aus den Augen verlieren, dass Demokratie keine messbare Größe ist, die Religion hingegen unveränderliche Regeln und Werte für das menschliche Leben bereit(hält)."

Hier der ewige, überlegene Islam, dort die vergängliche, unterlegene Demokratie? Das dürfte ein Islamverständnis sein, das die Bundesregierung eher verhindern als fördern will. So sieht das jedenfalls Michael Kiefer, Islamwissenschaftler der Uni Osnabrück: "Die Überzeugung, dass göttliche Regeln Ewigkeitscharakter hätten, unveränderbar seien und sich mit ihnen alle gesellschaftlichen Anliegen regeln ließen, zeigt eine wortwörtliche Auslegung der islamischen Quellen", sagt der Präventionsexperte. "Das ist für mich eine eindeutig islamistische Position."

Die Realschulpädagogin, die in der Fußgängerzone für den Bildungsverein wirbt, findet den Text dagegen unbedenklich: "Dort steht nur, was ist", sagt die Mathematiklehrerin - und erzählt, dass fünf Mal Beten am Tag in ihren Kreisen Pflicht sei, damit man nicht in die Hölle kommt. Damit liegt sie auf einer Linie mit der Autorin des Kapitels, Şengül Yaman. Die Sozialpädagogin schreibt nicht nur über die islamische Religion, sie leitet auch eine vereinseigene Kita und hat das Jusa-Projekt angeschoben. Eine Einzelmeinung vertritt sie nicht, in ihren Fußnoten gibt sie stets Gülen selbst und Gefolgsleute an. Ein zugesagter Termin für ein Gespräch mit ihr über ihren Text wurde kurzfristig abgesagt.

"Ihre Aussagen entsprechen exakt Gülens Modell von der 'muslimischen Demokratie'", sagt der Islamwissenschaftler und Gülen-Experte Florian Volm. "Die ist erst ideal, wenn islamische Normen eingeführt sind." Zu diesen zähle etwa die Geschlechtertrennung. Als Handreichung für eine demokratisch orientierte Jugendarbeit hält Volm den Text deshalb für ungeeignet.

Das Grundsatzpapier zur Jugendarbeit wurde im November 2019 auf der Homepage des EBG veröffentlicht. Am 16. Juli, einen Tag nach der schriftlichen Bitte der SZ um Stellungnahme, verschwindet es von dort - und die Bitte bleibt unbeantwortet. Wie es scheint, blieb die Veröffentlichung unter dem Radar der Politik. Den Jusa-Projektantrag des Vereins hat das Bundesfamilienministerium nach eigener Aussage jedoch überprüft. Auf Anfrage der SZ teilt das Ministerium mit, dem Bundesamt für Verfassungsschutz den Antrag vorgelegt zu haben. Dieses habe "keine Erkenntnis" zum EBG signalisiert. Auf den Text von Şengül Yaman aufmerksam gemacht, gibt das Ministerium nun selbst ein Signal: Es hält die zitierten Passagen für "problematisch". Die nordrhein-westfälische Landesbehörde für Verfassungsschutz erklärt hingegen auf Anfrage, das Schriftstück nicht zu bewerten, solange keine "Erkenntnisse" zu dem Verein vorlägen.

Einige Gülen-Vereine verstecken ihre Haltung vor Förderern. Das verzweigte Netzwerk hilft dabei

Offenbar hat die öffentliche Hand von dem Verein, den sie unterstützt, kein klares Bild. Gut 848 700 Euro Förderung hat der EBG in diesem und im letzten Jahr für verschiedene Belange erhalten. Der Geldfluss des Bundesfamilienministeriums für Jusa ist zwar versiegt, einen Folgeantrag für 2020 lehnte Berlin ab. Dafür schlug Nordrhein-Westfalen ein. Die Stadt Essen genehmigte rund 52 000 Euro aus Landesmitteln für die Projektfortsetzung. Und finanziert jedes Jahr 560 000 Euro Betriebskosten für die Vereinskita mit 65 Kindern. Auch andere Quellen sprudeln. Unter anderem für Kunstprojekte, Jugendcoachings und eine Gedenkstättenfahrt spendierte der Landschaftsverband Rheinland dem EBG 145 000 Euro für die Jahre 2019 und 2020, ebenfalls aus Landesmitteln.

Die Stadt Essen gibt auf Anfrage an, der Gülen-Hintergrund des EBG sei ihr bekannt - nicht aber die regionale Struktur der Bewegung an sich. Wie verzweigt diese ist, offenbart wiederum Jusa: Nicht nur der EBG profitiert von der Förderung, sondern mit ihm gleich sieben Projektpartner in Bottrop, Duisburg, Essen und Oberhausen. Laut dem Düsseldorfer Gülen-Landesverband "Engagierte Zivilgesellschaft" gehören sie alle dem Netzwerk des im US-Exil lebenden Predigers an.

Zur Bildungsarbeit der Bewegung in Deutschland zählen seit Jahren neben eigenen Kitas, Schulen und Nachhilfeinstituten gezielte religiöse Unterweisungen für Kinder und Jugendliche. Es gibt Gebetsstunden, Koranstudien, Vorträge. Es gibt Videosessions mit Gülen-Predigten, geschlechtergetrennte Camps, Projekte zur moralischen Charakterbildung. Jedem Angebot pauschal fundamentalistische Ziele zu unterstellen, würde dem Engagement des Netzwerks nicht gerecht. Die Bildungsinitiativen der Bewegung generell von diesem Verdacht freizusprechen, wäre aber ebenfalls unangebracht. "Wer, wie in der EBG-Handreichung geschehen, 'illegitime Neigungen' und 'abwegige Wünsche' bei Jugendlichen verurteilt, akzeptiert keine Lebensentwürfe außerhalb der heterosexuellen Norm", sagt Islam-Experte Volm.

Der Islam als bessere Demokratie und maßgebliche Moral - diese Botschaft befähigt muslimische Jugendliche vermutlich kaum dazu, für Freiheit, Selbst- und Mitbestimmung einzutreten. Doch offenbar gelingt es Gülen-Vereinen, ihre Haltung vor staatlichen Förderern zu verstecken. Die diffusen Verzweigungen des Netzwerks helfen dabei. Bei so viel Intransparenz wirkt manche politische Instanz überfordert. Sieben Tage nach der SZ-Anfrage lässt das Bundesfamilienministerium das Jusa-Projekt kommentarlos von seiner Website löschen.

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Quelle:
SZ vom 27.07.2020
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