Die Idee klingt erst einmal ganz reizvoll: Immer mehr Bundesländer wollen vom Sitzenbleiben abrücken, Jugendliche trotz schlechter Zensuren in die nächste Klassenstufe versetzen und die Stofflücken der betreffenden Schüler durch individuelle Förderung füllen. Die Tränen der Sitzenbleiber, die Demütigung und der Abschied aus dem alten Klassenverband haben oft böse Folgen. Eine "Ehrenrunde" ist nämlich kein Garant dafür, dass im folgenden Jahr alles besser wird und der Problemschüler zum Musterknaben gedeiht.
Doch die Menschen sind nun einmal verschieden. Eine Klassenwiederholung kann die Motivation negativ beeinflussen und ein Schultrauma auslösen. Sie kann aber auch positiv wirken, den Ehrgeiz hervorkitzeln - begleitet von zusätzlicher Zeit, um beim Stoff aufzuholen. Und viele Jugendliche begreifen die Gefahr, das Klassenziel zu verfehlen, generell als Ansporn, mehr zu lernen. Das Thema eignet sich deswegen nicht für Schnellschüsse.
Schule sollte keine Gemeinsamkeiten mit der Dressur eines Hundes haben, diese Zeiten sind, gottlob, ein historisches Kapitel. Schule kann aber auch kein kuschelpädagogisches Refugium sein - weil Kinder eben Kinder sind.
Junge Menschen müssen Selbstdisziplin erst lernen
Lehrer, so lautet ihr Auftrag, sollen aus Schülern mündige Bürger machen. Zum Erwachsenwerden gehören Albernheiten und Flausen, Widerborstigkeit und Renitenz, Bequemlichkeit oder Null-Bock-Phasen. Die meisten jungen Menschen suchen in dieser Zeit nach persönlichen Normen und Werten, und sie testen aus, inwiefern sie sich nach den Vorstellungen und Vorgaben der Gesellschaft zu richten haben.
Dazu braucht es aber auch die Gefahr des Scheiterns - als Motivation, genau diese zu vermeiden. So kann am Ende Selbstdisziplin entstehen, so kann ein Kind das Lernen lernen.
IQB-Studie:Die Aufgaben des Bildungsvergleichs
Im Süden Deutschlands lernt es sich besser. Dies belegt erneut ein Bundesländer-Schulvergleich. Welche Aufgaben die Grundschüler lösen mussten, sehen Sie hier.
Dass die deutschen Kultusminister den Umgang mit Leistungsschwachen überdenken, ist sicher löblich. Sie sollten aber mit Augenmaß vorgehen und es zunächst bei einigen Modellprojekten belassen, die ohne Druck ausprobieren, ob eine Schule ohne Sitzenbleiber wirklich die bessere Wahl wäre. Schon bei früheren Reformen hat sich gezeigt: Neue Schularten bringen keine neuen Schüler, vom modischen neuen Namen an der Pforte ist noch niemand klüger oder fleißiger geworden.
Der Blick der Reformer geht nun zu den Spitzenreitern bei der Pisa-Studie. Besser allerdings nicht nach Südkorea, wo Schulen quasi-militärischen Anstalten gleichen, schon Kinder den Tagesplan eines Managers haben und angesichts des Leistungsdrucks immer wieder Selbstmordfälle vermeldet werden - sondern nach Finnland, wo es kein Sitzenbleiben gibt. Dort läuft jedoch der gesamte Unterricht völlig anders als hierzulande.
Gerade Schwächeren wird eine ganze Armada aus Lehrern, Pädagogen, Sprachtrainern, Psychologen und Assistenten zur Seite gestellt. Die nötige Nachhilfe, das Aufholen von Stoff, all das findet systematisch in der Schule statt, sie ist dort Lern- und Lebensraum. Mit ein paar Förderstunden für Schüler, die trotz großer Defizite eine Klassenstufe versetzt werden, ist es nicht getan. Und die deutschen Kultusminister sind bekanntlich meist knapp bei Kasse.
Schule ohne Sitzenbleiben ist denkbar, wenn sich das System ändert - wenn der Lernfortschritt jedes Einzelnen ernst genommen wird, wenn Lehrer nicht in erster Linie Fächer unterrichten, sondern Menschen. Ein Kind, zumal eines, dem das Elternhaus keinen Bildungshunger vermittelt, ist kein mit Wissen zu befüllendes Gefäß. Es benötigt Angebote, die neugierig machen, eine Pädagogik, die sich seiner annimmt, eine Ganztagsbetreuung, die mehr bietet als Wurstsemmeln mittags und einen Sportplatz nachmittags. Davon ist Deutschland Welten entfernt.