Süddeutsche Zeitung

Debatte um Gymnasialreform:Mehr Zeit, weniger Stress

Abitur nach zwölf oder doch wieder nach 13 Schuljahren? Die Debatte über die Gymnasialreform ist im bayerischen Landtags-Wahlkampf wieder voll entbrannt. Warum es durchaus Sinn ergeben würde, den Schülern am Gymnasium die Wahl zwischen G 8 und G 9 zu lassen.

Tina Baier

Der Münchner Oberbürgermeister und SPD-Spitzenkandidat Christian Ude hat das achtstufige Gymnasium (G 8) zum Wahlkampfthema gemacht. Er kann sich vorstellen, Eltern und Schülern die Wahl zwischen G 8 und G 9 zu lassen. Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) hält das für unpraktikabel und warnt vor einem "pädagogischen und organisatorischen Schulchaos". Dabei gibt es durchaus Argumente dafür, G-9-Klassen an den bayerischen Gymnasien wieder einzuführen.

Die Praktikabilität

Schulen auf freiwilliger Basis zu erlauben, parallel zum G 8 einen "G-9-Zug" einzuführen, in dem die Schüler ihr Abitur nach 13 statt nach zwölf Jahren ablegen, muss nicht zwangsläufig eine erneute Änderung der Lehrpläne bedeuten. Eine solche Änderung würde bei den reformgeschädigten Schülern, Eltern und Lehrern berechtigterweise Unmut hervorrufen und an den Schulen wahrscheinlich tatsächlich zu Chaos führen. Vorstellbar wäre aber, den Lehrplan beizubehalten, die Inhalte aber wieder in neun statt in acht Jahren zu vermitteln.

Der Nachmittagsunterricht

Die Schüler der G-9-Klassen hätten dadurch wieder weniger Nachmittagsunterricht. Im G 8 haben Sechst- und Siebtklässler in der Regel einen Nachmittag Unterricht, Acht- Neunt- und Zehntklässler zwei bis drei Nachmittage und die Schüler der Oberstufe mindestens drei. Das ist besonders auf dem Land für viele Familien ein Problem. Weil die Busse dort oft mit großen Abständen fahren, kommt es häufiger vor, dass Schüler, die beispielsweise um Viertel nach drei Schulschluss haben, fast zwei Stunden warten müssen, bis dann um fünf Uhr ein Bus kommt und sie dann endlich um sechs oder gar sieben Uhr abends zu Hause sind. Für manche Eltern ist das ein Grund, Kinder, die wegen ihrer guten Noten aufs Gymnasium gehen könnten, auf eine andere Schulart zu schicken.

Die Belastung

Nach wie vor klagen viele Gymnasiasten über die hohe Lernbelastung am achtjährigen Gymnasium. Was spricht eigentlich dagegen, Schülern, die sich überfordert fühlen, wieder ein Jahr mehr Zeit bis zum Abitur zu lassen? Willkommener Nebeneffekt: Die Quote der Durchfaller würde sich weiter reduzieren, da Schüler, die im G 8 Schwierigkeiten haben, problemlos auf das G 9 wechseln könnten, ohne als "Durchfaller" stigmatisiert zu sein. Allerdings könnte das zur Folge haben, dass im Lauf der Zeit die G-9-Klassen immer größer und die G-8-Klassen immer kleiner werden. Die Schulen müssten deshalb die Möglichkeit bekommen große G-9-Klassen zu teilen beziehungsweise stark geschrumpfte G-8-Klassen zusammenzulegen.

Die Qualität

Während die Schüler über Druck und Stress klagen, bemängeln viele Lehrer einen Qualitätsverlust des G 8 im Vergleich zum G 9. Tatsächlich haben die Schüler des G 8 in ihrer ganzen gymnasialen Schulzeit etwa 200 Englischstunden und etwa 180 Mathestunden weniger, als es einst die Schüler am neunjährigen Gymnasium hatten. Auch in Deutsch und Latein wurde gekürzt. Lateinlehrer beobachten, dass es den Schülern des G 8 schwerer fällt, lateinische Originaltexte zu lesen, als das bei den Schülern des G 9 der Fall war; sie führen dies auf fehlende Übungszeiten in der Schule zurück. Auch zu Hause werde weniger geübt, da an Tagen mit Nachmittagsunterricht an vielen Schulen keine Hausaufgaben gegeben werden, um die Schüler nicht noch mehr zu belasten. In den G-9-Klassen bliebe wieder mehr Zeit zum Üben, da die Nachmittage nicht schon mit regulärem Unterricht belegt wären.

Das Schulleben

An vielen Gymnasien sind immer weniger Schüler für zusätzliche Aktivitäten wie Chor, Theater oder Orchester zu begeistern. Ein Grund dafür könnte sein, dass an solchen Arbeitsgemeinschaften in der Regel Schüler aus verschiedenen Klassen und Jahrgangsstufen teilnehmen, die im G 8 alle an unterschiedlichen Tagen Nachmittagsunterricht haben, sodass sich kaum noch ein Termin finden lässt, an dem alle Zeit haben. In den G-9-Zügen ohne Nachmittagsunterricht würde sich dieses organisatorische Problem von selbst erledigen. Davon würden auch Sport- und andere Vereine profitieren, die ihren Mitgliederschwund zum Teil auf das G 8 mit seinen vielen Nachmittagsverpflichtungen zurückführen.

Das Alter

Ein Argument für die G-8-Einführung war, dass die Abiturienten im internationalen Vergleich zu alt und deshalb weniger wettbewerbsfähig seien. Doch erhöht ein Jahr Altersunterschied wirklich die Chancen auf dem Jobmarkt? Zumal die Buben wegen der Abschaffung der Wehrpflicht jetzt früher fertig sind. Im G 9 haben zudem mehr Schüler Zeit im Ausland verbracht, was von Arbeitgebern positiv bewertet wurde. Firmen achten ja nicht nur auf Noten und Alter, sondern auch auf die Persönlichkeit.

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SZ vom 06.03.2012/wolf
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