Der geschäftsführende Vizepräsident der Technischen Universität München (TUM), Hans Pongratz, ist begeistert. Er erzählt von einem Tutorium, "das zehn Studierende gehört hatten." Dann stellte die Münchner Uni den Kurs, in dem gelehrt wird, wie man Kleinhubschraubern beibringt, alleine zu fliegen, online. Und alleine im ersten Durchlauf schauten 25 000 Teilnehmer aus 170 verschiedenen Ländern zu. Keiner davon musste nach München ziehen, keiner musste sich an der TUM einschreiben. Es ist die Demokratisierung des Wissens mit digitaler Hilfe.
Das Potenzial des digitalen Lernens ist überwältigend, wie das immer der Fall ist, wenn eine Kulturtechnik oder eine Industrie digitalisiert wird. Menschen, für die ein Flug nach Deutschland oder in die USA unerschwinglich wäre, können plötzlich an den Unis dieser Länder lernen. Menschen, die keine Zeit haben, eine Vorlesung zu besuchen, schauen sich eine nach der Arbeit auf dem Notebook an. Und auch wenn die Unis, die ihre Kurse online anbieten, viel Arbeit mit dem Schneiden von Lehrvideos und der Erstellung digitaler Quizze oder Fragebögen haben: Wenn der Arbeitsaufwand erst einmal abgeleistet ist, spielt es keine Rolle, ob einer oder Hunderttausende Studenten das Material verwenden. Alleine Kurse der TUM wurden bislang von über 100 000 Menschen gesehen.
Digitalisierung in der Bildung:Lernen nach Zahlen
Computer können künftig Schulaufgaben entwerfen und mitbestimmen über die Wahl von Studienfächern. Erste Erfolge aus den USA lassen aufhorchen, werfen aber auch Fragen auf.
Die bayerischen Unis setzen auf den Anbieter Coursera
Wie an der TUM ist man deshalb auch an der anderen Münchner Universität, der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) sehr zufrieden, zu den ersten deutschen Unis zu gehören, die diese "Massive Open Online Courses" - kurz: Moocs - anbieten.
Die Bayern setzen zur Verbreitung ihrer Inhalte auf das kalifornische Start-up Coursera. Es gibt nur wenige große Anbieter bislang. Neben dem Start-up Udacity des Deutschen Sebastian Thrun - das mittlerweile über eine Milliarde Dollar wert ist - ist das vor allem der Marktführer Coursera. Das Start-up vergleicht sich selbst gerne mit Amazon. Ein großes Vorbild. Die Leute bei Coursera seien "tolle Ansprechpartner", schwärmt dann auch LMU-Vizepräsident Martin Wirsing.
Wenn das Lernen digitalisiert wird, bedeutet das auch, dass viele Daten entstehen. Nicht nur die Online-Studenten lernen. Sondern auch Unternehmen wie Coursera, die die Inhalte professionell abrufbar ins Netz stellen und die Studenten betreuen. Sie lernen viel über ihre Nutzer: Wer lernt was? Wer lernt wie viel? Wer lernt schnell, wer langsam? Was sind die Fähigkeiten einzelner Studenten? Wo versagt jemand komplett?
Diese Daten sind intim, aber für Anbieter wie Coursera interessant. Coursera verdient einerseits Geld mit den Studenten, die für ihre Teilnahme an den Kursen bezahlen. Andererseits lassen sich auch die Daten der Studenten verkaufen, zum Beispiel an Arbeitgeber, die wissen möchten, wie sich ein Bewerber im Studium geschlagen hat.
"Die Daten können genutzt werden - für alle möglichen Zwecke"
Marit Hansen, Landesbeauftragte für Datenschutz in Schleswig-Holstein, hat sich die Coursera-Datenschutzregeln auf der Webseite des Unternehmens genau angeschaut. Sie sagt: "Die Daten lassen sich eben doch weiterverwenden, nach amerikanischem Recht." Das sehe vor, "dass Daten, die vorhanden sind, genutzt werden können - für alle möglichen Zwecke."
In Verträgen von Coursera steht auch explizit: Mit dem Einverständnis der Nutzer werde Coursera "Arbeitgebern oder Personalvermittlern erlauben, Nutzerdaten abzufragen." In seinen Datenschutzvorschriften beruft sich Coursera auch auf das Safe-Harbour-Abkommen zum Datenaustausch zwischen den USA und der EU. Das ist seit Oktober aber nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes ungültig.
Die Unis bekommen nur statistische und anonymisierte Daten
Die Universitäten sehen sich bei diesem Thema gerne außen vor. Ihr Argument ist, dass die Online-Studenten nicht unbedingt Studenten der Universitäten seien. Tatsächlich melden sich die Nutzer direkt bei Coursera für Onlinekurse an. Trotzdem sind die Universitäten wichtig: Die LMU prüft derzeit, ob es unter rechtlichen Aspekten in Ordnung wäre, auch Kurse mit Registrierungspflicht einzuführen. Dann könnten die Online-Studenten in Zukunft einen Abschluss der LMU erhalten. An der TUM wiederum gab es bereits Online-Studenten, die nach dem Onlinekurs vor Ort in München die Prüfung zum Seminar absolviert haben.
Bislang lässt Coursera die Universitäten nur an statistische und anonymisierte Nutzungsdaten, damit sie ihr Programm optimieren können. Den großen Datenschatz aber behalten die Amerikaner für sich.
Dort sind die Daten, abgesehen von ihrer Verwertung durch Coursera selbst, nicht immer sicher. Im letzten Jahr gelang es einem amerikanischen Professor, der einen Kurs auf Coursera angeboten hatte, ohne größere Schwierigkeiten große Bestände von Nutzerdaten herunterzuladen: ein riesiges Datenleck. Coursera besserte nach und versicherte anschließend, dass das Problem nun gelöst sei. Ist das so?
Zeit, sich den Anbieter, für den sich die großen deutschen Universitäten LMU und TU entschieden haben, genauer anzusehen. Im Internet ist eine knuffige Webseite zu sehen, bunte Bilder preisen die einzelnen Kurse an. Das Angebot: "Nimm die besten Kurse der Welt - online." Stolz ist man hier auf die tatsächlich beeindruckende Zahl von 16,5 Millionen Lernenden beziehungsweise Nutzern und auf das umfassende Angebot von knapp 1500 Kursen.
Die Transparenz endet jedoch, wenn die Fragen - insbesondere zum Datenschutz - kritisch werden. Eine umfangreiche Anfrage von NDR, SRF und SZ haben die Kalifornier bislang nicht beantwortet.
Die Zusammenarbeit zwischen der Ludwigs-Maximilian-Universität und Coursera basiert wie bei jeder Zusammenarbeit des Start-ups mit einer Universität auf einem Vertrag. Den darf die LMU Journalisten allerdings nicht zeigen, denn sie hat sich auf eine Geheimhaltungsklausel mit Coursera eingelassen. Als die Münchner bei ihrem Partner nachfragen, ob sie Journalisten wenigstens Auszüge zeigen dürfen, erhält die Uni bis zum Druck dieses Artikels keine Freigabe. Fast erweckt es den Anschein, als wolle Coursera nicht, dass das Thema Datenschutz überhaupt thematisiert wird.
Der Mathematiker Paul-Olivier Dehaye probierte genau das aber trotzdem. Der derzeit noch in Zürich lehrende Junior-Professor plante Mitte 2014 einen Coursera- kritischen Lehrgang - auf Coursera. Sein Plan wurde auch zum Testfall für die Freiheit der Lehre. Er kam nicht gut an.
Dehaye hatte nach seinen Angaben geplant, mit rund 5000 Web-Studenten den Zielkonflikt zwischen dem Bildungsauftrag der öffentlichen Universitäten einerseits und dem Profitstreben des von Risikokapitalgebern finanzierten Start-ups Coursera andererseits zu thematisieren. In seinem Kurs auf Coursera zeigte Dehaye, wie Coursera über Studenten Profile erstellen kann, in die zum Beispiel Forumposts, Lernzeiten oder Fehlerquoten einfließen könnten. Seine These war: Professoren, Studenten, Lehrmaterial - einfach alles sei für Coursera lukratives Datenmaterial.
Schon zu Kursbeginn Mitte Juni hatte er von Coursera für Lehr- und Forschungszwecke die vollständigen Datensätze seines eigenen Kurses verlangt. Das Unternehmen lehnte sein Ansinnen ab.
Dehaye löscht Kursmaterialien, ruft zum Boykott auf
Ende Juni las Dehaye in der Presse von einem Experiment, das Facebook mit seinen Nutzern durchgeführt hat. Dabei sollte die Stimmung der Nutzer manipuliert werden. Er fragte sich, ob Coursera ähnliche Verfahren anwendet, ohne die Nutzer zu informieren. Die Vertragsbedingungen der Plattform, die er daraufhin erneut studiert, lesen sich seiner Meinung nach damals an entscheidenden Stellen ähnlich wie jene von Facebook. In einer spontanen Aktion forderte er seine Studenten auf, Coursera zu verlassen. Er selbst löscht Kursmaterialien. Damit verstieß Dehaye gegen die Vertragsbedingungen von Coursera.
Dennoch ist die Reaktion der Kalifornier erstaunlich: Das Unternehmen stellte dem Professor ein Ultimatum von 24 Stunden, um den Inhalt wieder online zu stellen. Coursera nahm ihm auch die Möglichkeit, sich seinen Studenten gegenüber auf der Plattform zu erklären. Dehaye sah nach seinen Angaben seltsame Dinge in seinem Nutzerprofil vorgehen. Er ist der Meinung, Mitarbeiter von Coursera bemächtigten sich seines Profils. Gleichzeitig wurden ihm auf der Plattform seine Dozentenrechte entzogen; als er versuchte, sich zu erklären, in dem er Kommentare auf Coursera postet, wurden diese für Dritte - seine Studenten - unsichtbar.
Gleichzeitig stritt sich Coursera mit der Universität, an der Dehaye unterrichtet, und unterbrach zumindest zeitweise die Zusammenarbeit mit der Universität. An der Uni trägt der junge Professor, der in Stanford promoviert hat, heute den Ruf eines Querulanten.
Seit März läuft ein Verfahren
Um sich zu wehren und die fragwürdigen Handlungen Courseras zu belegen, verlangt Dehaye seit Oktober 2014 nach EU-Recht die Herausgabe seiner personenbezogenen Daten. Doch Coursera weigere sich, die kompletten Datensätze herauszugeben. Auch zu diesem Sachverhalt gab Coursera auf Anfrage keine Antworten.
Seit März 2015 klagt Dehaye daher gegen das Unternehmen in New York. Es geht nicht nur um Dehayes Ruf, sondern auch um die Freiheit der akademischen Lehre in einem neuen, bislang unbekannten privaten und digitalen Umfeld.
Die beiden Münchener Universitäten teilen diese Sorgen offenbar nicht. Aus Sicht des Datenschutzbeauftragten der LMU sei das Angebot in Ordnung, sagt Wirsing. Und an der TUM spricht der zuständige Vizepräsident zwar von Herausforderungen mit dem Datenschutz. Er sehe aber kein grundsätzliches Problem, da das Angebot freiwillig sei. Niemand müsse einen Kurs auf Coursera absolvieren. Wie lange das so bleibt, ist freilich offen. Setzt sich das Angebot durch - und danach sieht es aus - wird digitales Lernen für Studenten und ein einsehbarer Datensatz über das Lernverhalten für Arbeitgeber in Zukunft Alltag sein.