Nachhilfe mit Youtube:Lehrer zum Aussuchen, Anhalten und Zurückspulen

Nachhilfe mit Youtube: Parabeln, lineare Funktionen, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Kurvendiskussion: Daniel Jung erreicht mit seinem Youtube-Kanal "Mathe by Daniel Jung" mittlerweile etwa 530 000 Abonnenten.

Parabeln, lineare Funktionen, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Kurvendiskussion: Daniel Jung erreicht mit seinem Youtube-Kanal "Mathe by Daniel Jung" mittlerweile etwa 530 000 Abonnenten.

(Foto: digitaler-bildungspakt.de)

Youtube ist wichtig für die Schule, sagen viele Schüler. Die Plattform bietet kostenlos Nachhilfe - birgt aber auch Gefahren. Autoren einer Studie rufen die Politik zum Handeln auf.

Von Larissa Holzki und Bernd Kramer

Ohne Youtube würden Schüler heute öfter verzweifeln. Gerade ist Klausurenphase, da lässt sich das besonders gut beobachten. "Oh gott danke schreibe morgen eine Arbeit", hat etwa Senunu katz vor ein paar Tagen unter ein Video auf der Internetplattform geschrieben. Darin erklärt der Filmchenmacher "Lehrerschmidt", wie Terme berechnet werden. "Hab mir gefühlt 59 Videos von dir angeschaut kann die Themen jetzt eigentlich ganz gut", schreibt Senunu katz. Vielleicht werde es nun ja wieder eine Zwei in der Mathearbeit. Das hätte sie dem Youtuber zu verdanken - wie beim letzten Mal.

In den Schulen ist das Geld aus dem Milliarden-Digitalpakt für schnelles Internet, Computer und Whiteboards noch nicht angekommen. Aber ihre Schüler hat die Digitalisierung längst erreicht. Wenn die Lehrerin nicht gut erklären kann, wenn die Kinder im Unterricht gealbert haben, können sie sich ihre Bildung selbständig im Netz holen. Die zweitwichtigste Informationsplattform nach Google ist für sie Youtube. 60 Prozent der Jugendlichen recherchieren damit, zum Beispiel für die Hausaufgaben. Fast die Hälfte der Zwölf- bis 19-Jährigen hält Youtube für wichtig oder sehr wichtig für die Schule. Das zeigt eine Studie, die der Rat für Kulturelle Bildung an diesem Dienstag veröffentlicht.

Schon die JIM-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest 2018 hatte ergeben: 19 Prozent der Mädchen und 22 Prozent der Jungen schauen mehrmals pro Woche oder sogar täglich Erklärvideos zu Themen aus der Schule. Vor allem das Angebot in den Naturwissenschaften ist riesig. Fächer, in denen es auf Fragen nur eine richtige Antwort gibt, eignen sich für das Videolernen besonders gut. Dass sich auf Youtube eine Parallelschule mit einem Heer Nachhilfelehrer entwickelt, ist erfreulich und bedenklich zugleich.

Mathe-Offenbarung in fünf Minuten

Vor kaum 20 Jahren wurden Schüler mit dem ersten Referat Mitglied in der Stadtbibliothek. Das gesuchte Wissen stand oft auf vergilbten Seiten, kompliziert formuliert, ermüdend zu lesen, schwer zu schleppen. Als dagegen Marius Müller kürzlich in Chemie über Kunststoffe referieren sollte, ist er mit ein paar Klicks bei Youtube fündig geworden. Eine Berliner Hochschule hatte einen Film über den Vernetzungsgrad der Kunststoffe hochgeladen, sieben Minuten und 40 Sekunden geballtes Wissen. Die Grafik bei Minute 1:28 übernahm Marius für ein Tafelbild, Minute 3:32 bis 5:35 schaute er sich viermal an. "Da ging es um die Gummi-Elastizität von Kunststoffen, das fand ich schwer zu verstehen", sagt der 17-jährige Gymnasiast aus Wiesloch bei Karlsruhe.

Dass sich der Unterricht zurückspulen lässt, schätzen viele an der Plattform. Es braucht Mut, vor Mitschülern zu sagen, ich habe es noch nicht verstanden. Auf Youtube kann man die Erklärung immer wieder neu starten oder sich einen anderen Erklärer suchen. Einen Vorteil von Youtube gegenüber der Schule sehen in der Studie des Rates für Kulturelle Bildung 67 Prozent der Youtube nutzenden Schüler darin, dass man sich aussuchen kann, wer Themen und Inhalte vermittelt. "Youtube bietet einen angstfreien Zugang zu Bildungsinhalten", sagt auch der Medienpädagoge Karsten Wolf, der an der Uni Bremen den Einsatz von Lernvideos erforscht. Das liege auch am Ton, der dort herrscht: "Die Grundhaltung bei vielen Erklärvideos ist: Jeder kann es verstehen, das ist keine Frage der Begabung."

Und noch etwas ist auf Youtube ganz anders als in der Schule und der Grund, warum Lernen dort oft viel mehr Spaß macht: Mathe oder Physik dauern nicht 45 Minuten oder gar eine Doppelstunde. Videos wie die von Daniel Jung, einem der beliebtesten Youtube-Mathelehrer, dauern oft nur fünf Minuten. Aber in denen liegt oftmals die entscheidende Erkenntnis für den Stoff aus einem halben Schuljahr.

Youtube hat kein Interesse daran, dass Schüler ungestört Hausaufgaben machen

Bevor Jung anfing, Videos über Ableitungen, lineare Funktionen und Tangentengleichungen zu drehen, hat er Nachhilfe gegeben. Dabei stellte er fest: Das Verständnis eines ganzen Themas hing oft an einer kleinen Frage. Der Grund für ganz viel Mathefrust ist oft nur ein kleiner, nicht verstandener Zwischenschritt. Es waren just diese Fragen und Probleme, zu denen er vor etwa acht Jahren seine ersten Videos drehte. Heute findet sich zu so gut wie jeder Frage eines Mittel- oder Oberstufenschülers auf seinem Kanal "Mathe by Daniel Jung" ein Clip. Etwa 530 000 Schüler lieben ihn dafür und haben den Kanal abonniert.

Unter den Youtubelernern sind Schüler aller Schulformen, zeigt die Studie vom Rat für Kulturelle Bildung - ein Ergebnis, das Bildungspolitiker jubeln lassen könnte. Während private Nachhilfe teuer ist und dazu führt, dass Kinder von Geringverdienern den Anschluss verlieren, bieten die kostenlosen Lernvideos gleiche Chancen für alle und werden auch angenommen.

Doch dieser größte Vorteil der neuen Bildungswelt ist auch ihr größter Nachteil. Denn Bildungsyoutuber wollen mindestens ihre Unkosten decken, und Youtube holt das Geld dafür rein, indem es Werbung einblendet und Nutzer so lange wie möglich auf der Plattform hält - ob mit weiteren Mathevideos, Computerspielen oder Popstars. Youtube kennt die Nutzer so gut, dass es für jeden den passenden Vorschlag gleich neben oder nach dem Bildungsvideo anzeigt. Anders gesagt: Das Unternehmen tut alles, damit Schüler nach einem Erklärvideo nicht den Laptop zuklappen und die Aufgabe noch einmal rechnen, sondern sich in den Weiten der Videowelt verlieren.

Schulen bräuchten ihre eigene Plattform. Aber würde die Schüler sie nutzen?

Als Fazit seiner Studie empfiehlt der Rat für Kulturelle Bildung, die "neuen Wissens- und Vermittlungsformen aufzugreifen und stärker in die eigene Regie zu nehmen". Die Politik sei aufgefordert, einen "Rahmen zur Entwicklung nicht kommerzieller Räume für Kulturpraktiken zu schaffen". Aber kann das funktionieren?

Dass auch echte Lehrer auf Youtube Karriere machen können, zeigt der Kanal "Lehrerschmidt". Im echten Leben ist Kai Schmidt Rektor und Mathelehrer an der Oberschule in Uelsen. Bis vor vier Jahren hörte er von seinen Zehntklässlern immer die gleiche Ausrede: "Zu Hause war es plötzlich zu schwierig, deshalb konnten wir die Hausaufgaben nicht machen." Darauf filmte er mit der linken Hand, wie er mit der rechten den Lösungsweg aufschrieb - bis der Schulserver voll war. Aus Mangel an Alternativen ging er zu Youtube und wurde ungeplant berühmt. Dass er auf einem öffentlich geförderten Bildungsserver heute an die 165 000 Abonnenten hätte, hält er für unwahrscheinlich. "Eine Regel der Pädagogik ist ja, dass man dorthin gehen soll, wo die Kinder sind", sagt Schmidt. Er glaubt, dass Schüler eher zufällig über seine Mathe- und Physikvideos stolpern.

Daniel Jung sieht die Idee optimistischer. Coursera, Udemy und Udacity, Angebote von Unis und Unternehmen aus den USA, hätten es doch vorgemacht: "Politik und Influencer müssten gemeinsame Sache machen und den Jugendlichen neben Youtube eine werbefreie Bildungsplattform bieten", sagt Jung. Die Bildungsyoutuber könnten Schüler auf die neue Plattform lotsen. Lehrerschmidt wäre dabei. Vor drei Jahren schon habe er dem Niedersächsischen Landesinstitut für schulische Qualitätsentwicklung vorgeschlagen, seine Videos für alle Schüler im Land zur Verfügung zu stellen. Auf Antwort warte er bis heute.

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