Es ist eine Wende, wenn auch nur eine vorsichtige: In dieser Woche kehren die ersten Schüler in die Schulen zurück, in sieben Bundesländern, darunter Nordrhein-Westfalen. Sie legen Prüfungen ab oder bereiten sich darauf vor. Dabei gilt das öffentliche Interesse vor allem den Abiturienten. Das ist nicht nur wegen Corona, sondern jedes Jahr so. Andere Schulabschlüsse rangieren unter "ferner liefen". Der Vorsitzende des Realschullehrerverbands, Jürgen Böhm, hält das für einen Fehler.
SZ: Herr Böhm, das nordrhein-westfälische Bildungsministerium empfiehlt in einem Leitfaden zur Wiederaufnahme des Schulbetriebs seine "Tipps für Abiturienten, um sicher, stark und gesund durchs Abitur zu kommen". Für Haupt- und Realschüler, die vor dem Abschluss stehen, gibt es keine Tipps. Wie finden Sie das?
Jürgen Böhm: Da muss ich das Schulministerium rügen: Freunde, ihr habt nicht nur Abiturienten! Auch für die Neunt- und Zehntklässler, die dieses Jahr ihre Prüfungen ablegen, waren die letzten und sind die nächsten Wochen eine echte Herausforderung. Zumal die Prüfungen etwa in NRW 50 Prozent der Endnote ausmachen.
Beim Abitur machen sie ein Drittel aus.
Und die anderen zwei Drittel ergeben sich aus den Noten der letzten beiden Schuljahre. Beim Realschulabschluss fließt nur die Vornote des Abschlussjahres ein.
Die Phase, auf die es ankommt, ist also komprimierter.
Ja, und die Prüfungen am Ende fallen viel mehr ins Gewicht als bei Abiturienten.
Wie stressig sind diese Prüfungen?
Man arbeitet das ganze Jahr darauf hin, wie beim Abi auch. Natürlich wird man gut vorbereitet, es gibt klare Aufgabenstrukturen, man weiß, was man zu lernen hat. Das Level ist ein anderes als im Abitur, das ist klar. Das heißt aber nicht, dass der Druck geringer ist. Viele Abiturienten würden sich mit den Prüfungsformaten der Realschule schwertun. Realschüler sind genauso gestresst und aufgeregt, aber ums Abi wird viel mehr Hype gemacht.
Woran liegt das?
Das hat mehrere Gründe. Medienvertreter haben das Abitur oft mehr im Blick, weil sie selbst Abiturienten waren. Die Bildungspolitik und wirkmächtige Organisationen wie die OECD haben das Abitur über viele Jahre zum Nonplusultra erklärt. In Deutschland gelten Menschen ohne Abitur heute schnell als Bildungsabsteiger. Das ist ein Riesenproblem. Junge Leute mit guten mittleren Bildungsabschlüssen werden hier doch dringend gebraucht.
Abiturienten melden sich aber auch selbst mehr zu Wort. Gerade jetzt, viele protestieren wegen Corona gegen die Prüfungspflicht. Andere Schüler hört man kaum.
Real- und Hauptschüler sind im Schnitt drei, vier Jahre jünger, da startet man noch nicht so schnell eine Petition. Der Abschluss, die bevorstehende Ausbildung, das absorbiert die meisten voll.
"Hauptschullehrer bemühen sich in der jetzigen Notlage enorm."
Dabei behindern die Schulschließungen keineswegs nur Abiturienten. Bei Hauptschülern, die ungleich öfter aus benachteiligten Familien kommen, macht das Lernen zu Hause viel mehr Probleme.
Das kann man nicht generalisieren, aber auch nicht wegdiskutieren. Da fehlt häufig zu Hause die Struktur, manchmal gibt es weder Wlan noch Drucker noch eine Tastatur zum Schreiben. Nur ein Handy hat wirklich jeder. Hauptschullehrer bemühen sich in der jetzigen Notlage enorm um die Jugendlichen, müssen aber auch wesentlich mehr Energie aufwenden, öfter anrufen und stärker kontrollieren, um diese Schüler zu erreichen.
Weil die Eltern nicht mitziehen?
Es wird auch nicht jeder Gymnasiast unterstützt, aber Schüler zu einem ordentlichen Hauptschulabschluss zu bringen, verlangt Lehrern tatsächlich extrem viel ab.
Also ist es gut, dass die Schulen zuerst die Abschlussklassen zurückholen?
Ja, und ich bin froh, dass das für alle gilt, nicht nur für Abiturienten. Schüler, die in den letzten Wochen in ihren Familien nicht gut klargekommen sind, und Schüler, die zu Hause prima lernen konnten, gibt es mit Sicherheit in allen Schularten. Diese Unterschiede so gut wie möglich auszugleichen, ist die Herausforderung der nächsten Wochen.