Chancenspiegel 2013:Mehr Schulabbrecher im Osten

Schulverweigerer in Sachsen-Anhalt

Die Schere zwischen Bildungsgewinnern und -verlierern klafft in Deutschland besonders weit.

(Foto: dpa)

Weniger Schulabbrecher, mehr Abiturienten, alles super? Mitnichten, stellt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung fest, die Schere der Bildungsgerechtigkeit öffnet sich weiter. Wie wahrscheinlich Schüler scheitern, hängt von der Schulform ab, von der sozialen Herkunft - und vom Bundesland.

Von Johann Osel

Sie gelten als die größten Sorgenkinder der Bildungspolitik: Jugendliche, die ohne jeglichen Abschluss die Schule verlassen. 2008 hatten Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten auf ihrem "Bildungsgipfel" in Dresden ein hehres Ziel ausgerufen: Binnen fünf Jahren sollte die Zahl der Schulabbrecher halbiert werden - damals erreichten etwa 65.000 Schüler nicht mal den Hauptschulabschluss, knapp acht Prozent der Alterskohorte.

Belastbare Daten, ob das Vorhaben gelungen ist, werden zwar erst frühestens im kommenden Jahr vorliegen. Die Chancen, das Ziel noch zu erreichen, stehen aber schlecht. Dies geht aus der Studie "Chancenspiegel" hervor, den die Bertelsmann Stiftung und Schulforscher der Universitäten Dortmund und Jena an diesem Montag in Berlin vorgestellt haben. Im Abschlussjahr 2011 verließen deutschlandweit 49.560 Jugendliche die Schule, ohne zumindest einen Hauptschulabschluss erworben zu haben. Dies entspricht einem Anteil von 6,2 Prozent.

Der Analyse zufolge gab es zuletzt zwar weniger Schulabbrecher. Die Forscher sehen leicht positive Tendenzen im Vergleich zum Schuljahr 2009/10. Aber: "Insgesamt geht es mit der Chancengerechtigkeit eher im Schneckentempo voran", sagte Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung und ehemals parteiloser Wissenschaftssenator in Hamburg. Mehr Chancengerechtigkeit bleibe die Kernherausforderung der deutschen Schulsysteme, schon in der Grundschule sei der Bildungserfolg stark von der sozialen Herkunft abhängig. ​

Mehr Schulabbrecher im Osten

Vor allem bereitet den Experten die Situation in einigen Bundesländern große Sorge. Auffällig ist, dass in Ostdeutschland ein größerer Anteil die Schule ohne Abschluss verlässt als im Westen. Dies verweise auf einen "Schereneffekt" mit verheerenden Langzeitfolgen für die betroffenen Länder, schreiben die Forscher.

Während der Anteil der Schulabbrecher an der gleichaltrigen Wohnbevölkerung in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und im Saarland um die fünf Prozent liegt - und damit nahe an dem Ziel von Bund und Ländern -, rangiert der Wert in Brandenburg bei 8,6 Prozent, in Thüringen bei 7,9 Prozent sowie Berlin und in Sachsen bei ungefähr zehn Prozent. Sachsen-Anhalt (12,1 Prozent) und Mecklenburg-Vorpommern (13,3 Prozent) bilden die unrühmliche Spitze der Tabelle. Damit ist in der Hauptstadt sowie in den neuen Bundesländern das Risiko, ohne Abschluss die Schule zu verlassen, bis zu doppelt so hoch wie in den südlichen Bundesländern.

Der Chancenspiegel hatte bereits im vergangenen Jahr - zehn Jahre nach der ersten Pisa-Studie - erstmals für jedes Bundesland analysiert, wie gerecht und wie leistungsstark das jeweilige Schulsystem dort ist. Nun zeigt sich einmal mehr, dass Deutschland sein Problem mit den sogenannten Bildungsverlierern nicht in den Griff bekommt. Denn die Schere klafft nicht nur regional, sondern auch zwischen den Bildungsabschlüssen.

Die Abgehängten fallen noch stärker zurück

So stieg der Anteil der Schulabgänger mit Hochschulreife auf ein Rekordhoch - mehr als jeder Zweite erwirbt inzwischen einen Schulabschluss, der zur Aufnahme eines Studiums berechtigt. Vor dem Hintergrund der hohen Abiturienten-Quote fallen die Abgehängten noch stärker zurück. Ohne frühe Förderung drohten vor allem gescheiterte Karrieren bei Jugendlichen aus sozial schwächeren Schichten, so die Forscher.

Stagnation sehen sie etwa bei den Lesekompetenzen von Grundschülern, sie bewegten sich auf nahezu demselben Niveau wie vor zehn Jahren - und dies sei weiterhin stark abhängig von der sozialen Herkunft. Damals wie heute liegen die Kinder aus niedrigen Sozialschichten bei der Lesekompetenz durchschnittlich um ein Jahr zurück. Dabei berufen sich die Autoren auf jüngste Leistungsstudien.

Kein Land ist überall spitze

Kein Land allerdings ist überall spitze oder überall Schlusslicht, zeigt die Studie. Professor Wilfried Bos, Direktor des Instituts für Schulentwicklungsforschung an der Technischen Universität Dortmund, sagte: "Die Bundesländer haben jeweils Stärken und Schwächen, alle haben Nachholbedarf."

Entscheidend für mehr Chancengerechtigkeit seien die Qualität des Unterrichts und die individuelle Förderung der Schüler. Gute Rahmenbedingungen können allerdings begünstigend wirken. Hoffnungen setzen Bildungsforscher vor allem in die Ganztagsschule - eine Schulform, die nach aktuellen Umfragen zwischen 70 und 80 Prozent der Eltern favorisieren.

Damit verglichen macht der Ausbau von Ganztagsangeboten jedoch nur geringe Fortschritte. Der Anteil der Schüler im Ganztagsbetrieb stieg zwischen 2010 und 2011 nur minimal, auf 28,1 Prozent. Nur knapp 13 Prozent aller Schüler besuchen gebundene, also verpflichtende Ganztagsschulen. "Wenn sich der Ausbau der Ganztagsschulen nicht beschleunigt, dauert es noch mehr als 50 Jahre, bis für alle Kinder genug Plätze vorhanden sind. Dabei bietet gerade die gebundene Ganztagsschule gute Möglichkeiten, den Einfluss der sozialen Herkunft zu verringern", so Dräger.

Förderschule als Sackgasse

Eine strukturelle Benachteiligung bestimmter Kinder zeigt sich auch an anderer Stelle: in den Förderschulen. Im Jahr 2011 kamen der Studie zufolge mehr als die Hälfte der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss aus dieser Schulform.

Bei gut einer halben Million Schülern in Deutschland ist derzeit ein Förderbedarf diagnostisch festgestellt: Sie zeigen massive Lern- und Verhaltensauffälligkeiten, Defizite in der sozialen oder sprachlichen Entwicklung oder haben Körperbehinderungen. "Für solche Kinder wird die Förderschule zur Sackgasse: Fast drei von vier Sonderschülern scheitern heute bereits am Hauptschulabschluss - der vermeintliche Schutzraum entpuppt sich damit als Isolationsfalle", hat Stiftungsvorstand Dräger mal in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung geschrieben.

Dies sei "bitter für jeden einzelnen Jugendlichen", habe aber auch "dramatische Folgen für Staat und Gesellschaft: Wirtschaftswachstum, Sozialausgaben und Kriminalität stehen in direktem Zusammenhang mit der Perspektivlosigkeit von Jugendlichen ohne Schulabschluss".

Die Bertelsmann Stiftung gilt als Förderer der Inklusion, also der gemeinsamen Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung. Deutschland hat sich im Rahmen einer Konvention der Vereinten Nationen verpflichtet, inklusive Schulmodelle zu fördern - im Chancenspiegel zeigt sich aber noch ein gemischtes Bild. Zwar besucht mittlerweile jedes vierte Förderkind eine reguläre Schule, verglichen mit der Vorjahresuntersuchung nehmen die Inklusionsanteile im Bundesdurchschnitt um fast fünf Prozentpunkte zu. Richtig angepackt wird das Projekt allerdings noch nicht.

"Die Länder brauchen mehr Geld"

Als Hemmschuh für die zügige Integration behinderter und lernverzögerter Kinder in die regulären Schulen gelten meist die Kosten. In inklusiven Klassen sollen schließlich die Schwachen gefördert und zugleich die starken Schüler nicht ausgebremst werden, mehrere Lehrkräfte pro Klasse und Schulstunde wären ideal.

Dräger appelliert deshalb, Fortschritte bei der Chancengerechtigkeit seien nicht zuletzt eine Frage von Investitionen. "Die Länder haben in der Bildung zusätzliche Aufgaben bekommen. Dafür brauchen sie auch zusätzliches Geld."

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