Chancengerechtigkeit:So ungerecht ist unser Bildungssystem

Nirgendwo hängt der Bildungserfolg so stark vom sozialen Status der Eltern ab wie in Deutschland. Das ist das Ergebnis von unzähligen Studien und Statistiken zur Chancengleichheit im Bildungssystem. Im Video wird deutlich, was die nackten Zahlen wirklich bedeuten.

Von Oliver Klasen und Ivonne Wagner

Schüler, Eltern, Lehrer und Bildungspolitiker, also alle, die in irgendeiner Form mit dem Thema Schule zu tun haben, haben in den vergangenen Jahren einige neue Vokabeln gelernt. "Bildungsferne Schichten" oder "Migrationshintergrund" zum Beispiel. Schüler, Eltern, Lehrer und Bildungspolitiker sind in dieser Zeit auch mit ein paar neuen Abkürzungen vertraut gemacht worden. Iglu zum Beispiel, das heißt Internationale-Grundschul-Lese-Untersuchung, oder Timss, das steht für "Trends in International Mathematics and Science Study" und natürlich Pisa, was "Programme for International Student Assessment" bedeutet.

Recherche

"Welche Bildung brauchen unsere Kinder wirklich?" Diese Frage hat unsere Leser in der zweiten Abstimmungsrunde unseres Projekts Die Recherche am meisten interessiert. Dieser Text ist einer von zahlreichen Beiträgen, die sie beantworten sollen. Alles zur Bildungsrecherche finden Sie hier, alles zum Projekt hier.

Schüler, Eltern, Lehrer und Bildungspolitiker wurden außerdem geradezu bombardiert mit Studien, Berichten und wissenschaftlichen Papieren zum Thema Bildung. Dutzende Institute untersuchen die Lesekompetenz von Viertklässlern, die Durchlässigkeit von der Realschule zum Gymnasium oder welchen Einfluss es auf die Schullaufbahn hat, wenn die Eltern eines Kindes weniger oder mehr als 100 Bücher besitzen.

Gerechtigkeit im Bildungswesen
Die wichtigsten Studien
  • Die von der OECD erstellte Pisa-Studie untersucht die Fertigkeiten 15-jähriger Schüler. Sie ist international angelegt und wird im Abstand von drei Jahren veröffentlicht, an der vergangenen Runde 2009 nahmen 69 Länder teil. Die Ergebnisse der Pisa-Studie 2012 sollen im Dezember 2013 veröffentlicht werden.
  • Der Chancenspiegel ist ein gemeinsames Projekt der Bertelsmann Stiftung, des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der TU Dortmund und des Instituts für Erziehungswissenschaft (IfE) der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er untersucht, wie gerecht die Schulsysteme in Deutschland sind.

2001 war das Jahr, das die Bildungsdiskussion in Deutschland revolutionär veränderte: Damals veröffentlichte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) besagte Pisa-Studie, in der die Leistungen 15-jähriger Schüler international verglichen wurden. Deutschland schnitt gegenüber anderen Industrienationen relativ schlecht ab, das war der erste Schock für das hiesige Bildungssystem.

Wichtiger noch war jedoch die Erkenntnis, dass nirgendwo sonst der Bildungserfolg so sehr von der Herkunft und dem sozialen Status der Eltern abhängt wie in der Bundesrepublik. Das scheint inzwischen zum Gemeinplatz geworden zu sein.

Der Wahlthesen-Test von Süddeutsche.de, bei dem Abgeordnete aus dem Bundestag und aus den Landtagen anhand von 35 Fragen zu ihren Haltungen und Ansichten befragt worden sind, lieferte kürzlich wieder einen Beleg dafür. "Das deutsche Bildungssystem gibt jedem eine ausreichende Chance" war eine Aussage, der die meisten Politiker eher nicht zustimmen konnten. Zwar gab es Unterschiede zwischen den Parteien. Unions- und FDP-Abgeordneten waren im Durchschnitt eher geneigt, den Satz zu bejahen als SPD-Politiker, Grüne und Linke, doch in der Summe ergab sich eine sehr niedrige Zustimmungsrate: nur 36 von 100 Punkten.

Doch wie ungerecht ist das Bildungssystem hierzulande wirklich? Aus der unendlichen Fülle der Zahlen, Daten und Statistiken haben wir vier besonders aussagekräftige Aspekte herausgegriffen und sie in einem Video veranschaulicht. Die Daten dazu stammen vom Statistischen Bundesamt aus den Jahren 2011 und 2012, den aktuellsten Zahlen, die verfügbar waren.

Ein wichtigstes, weil besonders eindrückliches Kriterium ist jenes, das Wissenschaftler den Bildungserfolg nennen: die Frage, mit welchem Abschluss ein Jugendlicher seine Schulablaufbahn beendet. Hier zeigt sich, dass Schüler, die keinen deutschen Pass haben, signifikant schlechter abschneiden als alle Schüler zusammengenommen. Und es wird auch deutlich, dass die Eltern von Hauptschülern häufiger einen niedrig qualifizierten Berufsabschluss haben als die Eltern der Schüler, die Abitur gemacht haben.

Natürlich wären auch viele andere Indikatoren in Frage gekommen. Die Wahrscheinlichkeit für ein sogenanntes Arbeiterkind, am Ende der vierten Klasse eine Gymnasialempfehlung zu erhalten zum Beispiel. Aber oft sind die einzelnen Befunde nur schwer vergleichbar, weil sie von einer anderen Datenbasis ausgehen.

Christian Ebel, der für die Bertelsmann-Stiftung den Chancenspiegel betreut, sieht das jedoch nicht als Problem an: "Was uns auffällt und in unserer Forschungsarbeit bestärkt, ist, dass alle Studien, auch wenn sie im Einzelnen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, von der Tendenz her alle gleich sind. Überall steht am Ende die Aussage, dass Kinder von sozial schwachen Eltern und von Eltern mit Migrationshintergrund benachteiligt werden und das bisher zu wenig getan wird, um das zu ändern."

Die Recherche zum Schulsystem: Bildung, wie wir sie brauchen

"Welche Bildung brauchen unsere Kinder wirklich?" - das wollten unsere Leser in der zweiten Runde von Die Recherche wissen. Mit einer Reihe von Artikeln versuchen wir diese Frage zu beantworten.

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