Chancengerechtigkeit an deutschen Schulen:Mangelhaft bis ungenügend

Kinder armer Leute haben es in der Schule schwerer als die von Reichen - das belegen Pisa, Iglu und viele andere Schulstudien seit Jahren. Eine neue Untersuchung zeigt: In Sachen Chancengerechtigkeit hat sich in Deutschland immer noch zu wenig getan.

Roland Preuß

Welche Chancen ein Schüler auf das Abitur hat, wie gut Kinder armer Familien gefördert werden - und wie groß das Risiko ist, ohne Abschluss die Schule zu verlassen, hängt stark von dem Bundesland ab, in dem man wohnt. Dies ist das Ergebnis einer Studie des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) der TU Dortmund und der Bertelsmann-Stiftung, die an diesem Montag erscheint und die der Süddeutschen Zeitung vorliegt.

Der sogenannte Chancenspiegel zeigt: Auch zehn Jahre nach der Pisa-Schuluntersuchung, die eine Debatte über den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg anstieß, mangelt es noch immer an Chancengleichheit an deutschen Schulen.

Der fast 200 Seiten langen Studie zufolge gelingt es Kindern mittelloser Eltern viel seltener, das Gymnasium zu besuchen als dem Nachwuchs von Akademikern, auch wenn diese gleich intelligent sind. Besonders ausgeprägt ist dieser Zusammenhang in Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, wo die Chance der Akademiker-Kinder auf ein Abiturzeugnis gut sechs mal höher ist als die von Arbeiterkindern. In Berlin, Brandenburg, Hamburg, Hessen und Sachsen liegt der Unterschied nur beim Zweieinhalbfachen.

Ganztagsschulen sind ein wichtiger Faktor

Die Forscher führen diese Kluft unter anderem auf das Angebot an Ganztagsschulen zurück, weil diese eine einheitliche Betreuung für alle Schüler anbieten - anders, als bei den jeweiligen Familien zu Hause. Hier hat Sachsen die besten Werte aufzuweisen: In dem Land verbringen fast drei von vier Kindern auch den Nachmittag an den Schulen, in Bayern dagegen ist es nicht einmal jeder zehnte Schüler.

Überraschendes offenbart der Blick auf die Schulabbrecher: Hier liegen Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen vorne, wo nur etwa sechs Prozent eines Jahrgangs ohne Abschluss bleiben - und damit oft chancenlos auf dem Arbeitsmarkt. In den ostdeutschen Flächenländern (mit Ausnahme Thüringens) dagegen brechen fast doppelt so viele Jugendliche die Schule ab, fast zwölf Prozent. Dies ist überraschend, weil bislang vor allem Kinder aus Zuwandererfamilien als Abbrecher im Fokus standen, in den ostdeutschen Ländern ist der Migranten-Anteil jedoch viel geringer als im Westen. Wichtiger als die Herkunft seien Armut und Arbeitslosigkeit, sagt Ulrich Kober, Integrations- und Bildungsexperte der Bertelsmann-Stiftung. "Der soziale Faktor ist der entscheidende."

Die Studie versucht, sowohl die Leistung als auch die Gerechtigkeit der Schulsysteme zu messen. Maßstab ist etwa der Anteil der Schüler, die das Abitur schaffen und das Leistungsniveau beim Lesen. Auf eine Rangliste aller Ergebnisse haben die Forscher bewusst verzichtet, allerdings fallen Sachsen und das Saarland durch viele positive Ergebnisse auf, Sachsen-Anhalt durch schlechte. "Die Bundesländer müssen deutlich mehr voneinander lernen", forderte Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Bertelsmann-Stiftung. Alle hätten Nachholbedarf bei der Chancengerechtigkeit. Die Studie zeige noch deutliche "Gerechtigkeitslücken" in mehreren Ländern. Der Leiter der Studie, der Dortmunder Professor Wilfried Bos, forderte die Länder auf, sich mehr für den Vergleich ihrer Schulsysteme zu öffnen.

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