Das Weißbrot muss getoastet werden, damit fängt es schon an. Tom Kölblin steht vor dem Toaster, tastet nach den Schlitzen, er steckt die erste Scheibe Brot rein, dann die zweite. Seine Finger fahren rechts am Gerät entlang. Kein Schalter. Links findet er den Knopf, klack, der Knopf rastet ein. Tom fasst nach der Tischplatte, nach der Stuhllehne, er setzt sich an den Tisch. Er wartet auf das Geräusch, das der Toaster macht, wenn das Brot herausspringt.
Eine WG-Küche in Marburg, helle Wände, Möbel aus Holz, bunte Barhocker. Tom Kölblin hat nur Hunger. Antonia Netter und ihre Freundin Zoe Teuchert haben ganz andere Probleme. "Wie heißt noch mal der Chef von Galileo?" - "Musste googeln." Sie finden den Namen nicht, nur den des Moderators, was soll's, die Zeit drängt. "Sehr geehrter Herr Abdallah", schreibt Zoe Teuchert, sie sitzt nah am Bildschirm, ihre Nase berührt ihn fast. "Wir haben ein Anliegen, das uns wichtig ist", tippt sie weiter, Schrifttyp Verdana, Schriftgröße 72 Punkt, "die negativen Seiten des Bundesteilhabegesetzes."
Antonia Netter, 18, und Zoe Teuchert, 15, sind sehbehindert. Tom Kölblin ist blind, er hat eine Uhr, die ihm die Zeit sagt - "es ist fünfzehn Uhr einundzwanzig, Freitag" - und einen Langstock, mit dem er sich beim Gehen vorantastet. Gemeinsam wohnen die drei in einem Haus in der Marburger Altstadt. Gemeinsam besuchen sie die Carl-Strehl-Schule, eine private Förderschule, die neben einer Fachoberschule auch ein Gymnasium für blinde und sehbehinderte Schüler anbietet.
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Stadthalle Marburg, Ende September, Stühle in Reihen. Der Chor singt, die Landrätin gratuliert, der Oberbürgermeister trägt einen Anzug, dunkelblau. Die Deutsche Blindenstudienanstalt, kurz Blista, Trägerin der Carl-Strehl-Schule, feiert ihr 100-jähriges Bestehen, und auch der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf wird 100 Jahre alt an diesem Tag. Ein Grund zu entspannen, eigentlich.
In einem Film erinnert die Blista das Publikum noch einmal daran, wie sich das Leben der Blinden mit der Zeit verändert hat: Früher, Bilder in Schwarz-Weiß, traute man Blinden allenfalls zu, Körbe zu flechten und Bürsten zu binden. Als nach dem Ersten Weltkrieg immer mehr junge Männer sehbehindert nach Hause zurückkehrten, fehlte eine Schule, an der sie lernen konnten. 1916 wurde die Carl-Strehl-Schule gegründet, benannt nach dem ersten Kursleiter. Heute sind etwa 7500 der zehn Millionen Schüler in Deutschland blind oder sehbehindert. Rund 1000 von ihnen besuchen eine weiterführende Schule.
Sehbehinderte demonstrieren gegen das geplante Gesetz
Der Chor singt wieder, dann eine Rede, Horst Köhler betritt die Bühne. Seine erblindete Tochter Ulrike hat hier Abitur gemacht. Auch für den früheren Bundespräsidenten gibt es nur ein Thema, das Jubiläum. Aber noch wichtiger als die Vergangenheit der Schule ist ihre Zukunft - und die hängt, so sagen es viele, davon ab, in welcher Form das neue Bundesteilhabegesetz (BTHG) in Kraft tritt.
Die Marburger sind nicht die Einzigen, die sich Korrekturen wünschen. In Berlin sind Blinde in der Spree baden gegangen, nicht weit vom Bundestag, wo das Gesetz noch in diesem Jahr verabschiedet werden soll. Es gab Demos in Hannover, Köln und Rostock, Tenor: Wir lassen uns nicht behindern. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) lobt die 360 Seiten BTHG als eines der "größten sozialpolitischen Vorhaben in dieser Legislaturperiode." Viele Behinderte aber empfinden es als unsozial.
In der WG-Küche beschmiert Tom Kölblin seinen Toast mit Butter, die beiden jungen Frauen sitzen noch vor dem Laptop. Sie haben Sorge, dass ihre Schule geschlossen werden muss, wenn das BTHG ohne Änderung durchkommt. Weil die Eltern volljähriger Schüler dann deutlich mehr bezahlen müssten, sich die Schule für ihre Kinder vielleicht nicht mehr leisten könnten. Deshalb das Ringen um die richtigen Worte, deshalb die Mail. Das Gesetz, erklären die beiden Schülerinnen also Herrn Abdallah von Galileo, mag theoretisch ein guter Ansatz sein. Praktisch bringe es für sie jedoch nur Nachteile.
Menschen, die ein Sehvermögen von weniger als 30 Prozent haben, erhalten bislang automatisch Eingliederungshilfen, zum Beispiel für einen Integrationshelfer. 16,4 Milliarden Euro pro Jahr gab der Staat zuletzt für diese Sozialleistungen aus. Mit dem neuen Gesetz soll nun auch neu definiert werden, wann jemand behindert ist - und wann er Anspruch auf Sozialleistungen wie eben die Eingliederungshilfe hat. In Zukunft sollen Sehbehinderte erst nachweisen, dass sie in mindestens fünf Lebensbereichen zugleich - etwa beim Lernen, der Selbstversorgung oder der Fortbewegung - erhebliche Unterstützung brauchen. "Außerdem haben wir die Hilfen bisher nicht nur während der schulpflichtigen Zeit bekommen, sondern auch dann, wenn wir Abitur machen wollten", sagt Antonia Netter, und ihre Freundin schreibt es auf. "Die weiterführenden Schulen sollen im derzeitigen Gesetzesentwurf aber gestrichen werden."
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Antonia Netter war zuletzt in der neunten Klasse an einer Realschule in Saarbrücken, 24 Mitschüler. Arbeitsblätter waren nicht groß kopiert, und was der Lehrer an die Tafel schrieb, konnte sie nicht lesen. Sie fragte ihre Sitznachbarin, dann wurde sie gerüffelt, weil sie redete. Im Sportunterricht musste sie mitmachen, den Ball fing sie nie, ewiger Frust, endlose Hänseleien, wenn Mannschaften gewählt wurden, saß sie immer als letzte noch auf der Bank. Im Herbst 2013 ist Antonia Netter nach Marburg an die Carl-Strehl-Schule gewechselt, eine Privatschule, 270 Schüler, kleine Klassen. Sie wohnt in einer der Wohngruppen, die überall auf die Stadt verteilt sind, Blinde und Sehbehinderte, Fünftklässler und Abiturienten, immer lebt ein Betreuer mit ihnen im Haus. "Hier ist wirklich alles angenehmer", sagt Antonia Netter, "das Lernen, das Wohnen und auch die Stadt."
Marburg hat sich auf die Schule eingelassen und mit ihr auf blinde und sehbehinderte Menschen. Jede Ampel piepst, wenn sie von Rot auf Grün springt. Die Bürgersteige sind geriffelt, die Struktur im Boden weist den Weg. In den Supermärkten begleiten Einkaufshilfen Blinde und Sehbehinderte durch die Regale, ein Verkäufer sagt: "Jetzt sind wir beim Gemüse, wir haben Fleischtomaten und Rispentomaten und Cherrytomaten, Cherrytomaten sind diese Woche im Angebot." In Marburg, sagt Antonia Netter, kenne jeder jemanden, der blind ist oder sehbehindert. "Da ist das kein Ding mehr." Sie hat eine Sehkraft von 16 Prozent, vor ihrem Auge wird alles zu Strichen und Punkten, was weiter entfernt ist als anderthalb Meter. Ampeln: langer Strich, roter oder grüner Punkt. Gesicht: Punkt, Punkt, Strich, Strich, die Augen, Nase, Mund. Mehr erkennt sie nicht.
Antonia Netter geht in die zwölfte Klasse, im Fach Soziale Arbeit lesen sie und die zehn Mitschüler gerade einen Artikel über Doku-Soaps im Nachmittagsfernsehen. Zwei Schüler sind blind, vor ihrer Computertastatur liegt eine Braille-Zeile. Neun Schüler sind, ähnlich wie Antonia Netter, sehbehindert, sie haben die Texte auf ihren Bildschirmen, ein spezielles Programm vergrößert die Buchstaben, sie sind so groß wie Legosteine. Manche hier haben schon eine Ausbildung abgeschlossen und wollen jetzt das Fachabitur in Wirtschaft oder Sozialwesen nachholen, um studieren zu können. An einer Regelschule würden sie das kaum schaffen, sagen sie.
In Marburg werden sie nicht nur auf ihr Studium vorbereitet, sie lernen auch, über ihre Behinderung zu sprechen. "Als Blinder oder Sehbehinderter ist man immer in der Bringschuld", sagt Antonia Netter. Die Leute fragten, ob sie über ihre Behinderung reden wolle, als habe sie Krebs. Eine Frau wollte einer Freundin, ebenfalls sehbehindert, über die Straße helfen. Eigentlich ja nett. Aber: "Die hat sie über den Zebrastreifen geschoben, als wäre sie ein Schrank." Oder einmal, da saß eine andere Freundin mit ihrem Freund im Restaurant, und die Bedienung hat den Freund gefragt: "Was will sie denn?"
Antonia Netter möchte später einmal mit psychisch kranken Kindern arbeiten, ein Praktikum hat sie schon gemacht. An der Carl-Strehl-Schule übt sie nun, wie sie Bewerbungen schreiben soll. Dass sie nicht aufzählt, was sie alles nicht kann. Sondern dass sie klarmacht, dass sie zwar eingeschränkt ist, aber gelernt hat, gut damit zu leben.