Süddeutsche Zeitung

Bundesgerichtshof:Kollaps im Sportunterricht - tragischer Fall vor dem BGH

Ein Schüler bricht zusammen, die Lehrkräfte reanimieren nicht, sondern warten auf den Notarzt. Der junge Mann ist nun schwerbehindert - und der BGH muss die Schuld der Pädagogen beurteilen.

Ein 18-Jähriger hat beim Aufwärmen im Schulsport Kopfschmerzen, er sackt an einer Wand zusammen, ist nicht mehr ansprechbar. Die Lehrerin alarmiert den Notarzt. Doch bis der kommt, vergehen Minuten. "Beim Eintreffen des Notarztes bereits achtminütige Bewusstlosigkeit ohne jegliche Laienreanimation", heißt es später im Klinikbericht. Der Schüler erleidet schwerste Hirnschäden durch Sauerstoffmangel.

Inwiefern haben die Lehrerin und ein ebenfalls anwesender Kollege schuld am Schicksal des Jungen und wer haftet? Das prüft der Bundesgerichtshof (BGH) an einem sechs Jahre alten Fall aus Wiesbaden.

Worum genau geht es vor dem BGH?

Der frühere Schüler macht Amtshaftungsansprüche gegen das Land Hessen wegen unzureichender Erste-Hilfe-Maßnahmen durch die beiden Lehrer geltend. Er fordert mindestens 500 000 Euro Schmerzensgeld, gut 100 000 Euro für die Erstattung materieller Schäden, eine monatliche Mehrbedarfsrente von etwa 3000 Euro sowie die Feststellung, dass Hessen auch für künftige Kosten aufkommen soll.

Warum?

Der damalige Gymnasiast erlitt bei dem Vorfall im Januar 2013 irreversible Hirnschäden durch mangelnde Sauerstoffversorgung. Er ist zu 100 Prozent schwerbehindert - weil die Lehrer Herzdruckmassage und Atemspende unterlassen hätten, behauptet der Kläger.

Was haben die Lehrkräfte unternommen?

Die Sportlehrerin alarmierte per Notruf die Rettungsleitstelle. Sie brachte den Schüler nach deren Anweisung in die stabile Seitenlage. Sie hatte sich allerdings nicht vergewissert, ob der Schüler noch atmete. Ihr Kollege fühlte nur den Puls. Wiederbelebungsmaßnahmen gab es erst durch Sanitäter und den Notarzt.

Wie urteilten die Vorinstanzen?

Vor dem Landgericht Wiesbaden und später vor dem Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt blieb der Kläger erfolglos: "Es kann nicht festgestellt werden, dass sich etwaige Pflichtverletzungen des Lehrpersonals im Rahmen der Hilfeleistung kausal auf den Gesundheitszustand des Klägers ausgewirkt haben." Nur wenn die Atmung bereits vor Erscheinen der Rettungskräfte aussetzte, hätten die Lehrkräfte Wiederbelebungsmaßnahmen einleiten müssen. Das sei nicht nachweisbar. Die Berufung wurde zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Revision vor dem BGH.

Wie ist die Rechtslage?

Zur Hilfe bei Unglücksfällen ist jeder verpflichtet. Bei unterlassener Hilfeleistung droht nach dem Strafgesetzbuch (StGB, § 323c) bis zu ein Jahr Haft oder Geldstrafe. Beamtete Lehrkräfte haften nach Angaben des Deutschen Anwaltvereins (DAV) zusätzlich nach § 839 BGB in Verbindung mit Artikel 34 Grundgesetz, wenn sie ihre Amtspflicht verletzen. Die Verantwortung - Amtshaftungsanspruch - übernimmt für sie jedoch der Staat. "Nur bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit kann die Lehrkaft in Regress genommen werden", sagt Thomas Summerer, Vorsitzender des Geschäftsführenden Ausschusses der DAV-Arbeitsgemeinschaft Sportrecht.

Was müssen Lehrkräfte im Notfall tun?

Nach den Schulgesetzen der Länder haben sie eine Aufsichtspflicht. Die kann - bei aussetzender Atmung eines Schülers - Reanimation durch Herzdruckmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung einschließen, sagt DAV-Experte Summerer. "Ein Lehrer kann sich nicht auf den Notarzt verlassen."

Viele Bundesländer sehen Regelungen für Erste Hilfe vor, sagt Udo Beckmann, Bundeschef des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE). Verpflichtend ist dies jedoch nicht überall. In Hessen, wo der aktuelle Fall passiert ist, sind Lehrkräfte, die Sport-, naturwissenschaftlichen oder technischen Unterricht erteilen, seit 2013 verpflichtet, an einem Erste-Hilfe-Kurs teilzunehmen. Die Kenntnisse müssen alle vier Jahre erneut nachgewiesen werden. Die Lehrergewerkschaft GEW plädiert für regelmäßige Erste-Hilfe-Kurse an allen Schulen - finanziert vom Schulträger.

Inwiefern hat der Fall grundsätzliche Bedeutung?

"Auf den ersten Blick ist es ein trauriger Einzelfall", sagt Sportrechtler Summerer. Der BGH könnte aber Grundsätzliches zu den Handlungspflichten einer Lehrkraft sagen. Ein Urteil soll am 4. April fallen.

Wie groß ist die Chance auf Schmerzensgeld durch das Land?

Der Kläger müsste eine Pflichtverletzung der Lehrkräfte nachweisen. Die läge vor, wenn die Atmung schon vor Ankunft des Notarztes ausgesetzt hat. Der BGH muss deshalb prüfen, ob das OLG die Beweisaufnahme richtig gewertet und die Beweislast richtig verteilt hat. Fraglich könnte auch sein, ob das OLG die Rolle des zweiten Lehrers genügend berücksichtigt hat.

Gibt es vergleichbare Urteile?

Der Fall erinnert an ein tragisches Geschehen in Höhr-Grenzhausen (Rheinland-Pfalz): Eine Zwölfjährige hatte sich im Jahr 2010 in einem Naturbad im Seil einer Boje verfangen. Sie war minutenlang unter Wasser und erlitt irreparable Hirnschäden. Anstatt sofort zu handeln, hatte der Bademeister zunächst einen Jugendlichen nachschauen lassen. Bei einem grob fahrlässigen Pflichtverstoß greift die Beweislastumkehr, entschied der BGH Ende 2017 und hob ein Urteil des Landgerichts Koblenz auf. Die Vorinstanzen hatten ähnlich wie im aktuellen Fall argumentiert: Es sei nicht bewiesen, ob das Mädchen bei schnellerer Rettung nicht genauso schwer behindert gewesen wäre.

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