Bücher:Wer viel liest, der schreibt auch richtig?

Bücher: Auch die "Generation Harry Potter" liest noch Texte auf Papier.

Auch die "Generation Harry Potter" liest noch Texte auf Papier.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Junge Menschen lesen zu wenige Bücher und haben deshalb Rechtschreibschwächen, klagt der Philologen-Verband. Aber eigentlich hat Lesen einen ganz anderen Zweck.

Kommentar von Lothar Müller

Kürzlich hatte in London das Theaterstück "Harry Potter and the Cursed Child" Premiere. Theaterräume sind nicht für ein Millionenpublikum gemacht. Die englische Originalausgabe des Buches, in dem man das Stück nachlesen kann, ist schon jetzt ein Bestseller. Der Leser gerät darin in die Bibliothek des Zauberministeriums, dorthin, wo die streng verbotenen Bücher stehen. Sie verwandeln sich in Zeitmaschinen, wenn man das Rätsel löst, das sie aufgeben. Wenn nicht, wird man von dem Schrank, in dem sie stehen, verschluckt.

In dieser Woche hat der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes seine Besorgnis darüber zum Ausdruck gebracht, "dass wir es insbesondere bei den meisten Jungen mittlerweile mit einer Generation zu tun haben, die kaum mehr liest". Es ging ihm um die vielfach beklagte Rechtschreibschwäche vieler junger Deutscher. Wie groß deren Ausmaß ist, darüber sind die Experten sehr uneinig. Manche verweisen darauf, dass die deutschen Schüler in puncto Lesekompetenz in jüngster Zeit eher besser abschneiden als bei der ersten Pisa-Studie im Jahr 2000.

Wer viel liest, der schreibt auch richtig, so die These des Philologen. Sie klingt einleuchtend, wirft aber sogleich die Frage auf, welche Lektüre er dabei im Auge hat. Denn es wird ja in Deutschland, auch von Jungen, sehr viel gelesen und geschrieben. Auf Facebook, Twitter, per SMS oder Mail. Das geht nicht ohne Alphabetisierung, wird aber selten als Übung in Rechtschreibung betrieben. Das Internet, in seiner Frühzeit gelegentlich als Einfallstor für die Machtergreifung der Bilder auf Kosten der Schrift beargwöhnt, ist auf kein Medium festgelegt. Es ist die Infrastruktur, die alle zusammenführt. Auch als Schriftmedium gewinnt es an Bedeutung. Wer nicht lesen und schreiben kann, dem gibt es unlösbare Rätsel auf.

Lesen ist mehr als das Entziffern von Schriftzeichen

Wenn Philologen über die Defizite von Nicht-Lesern klagen, meinen sie meist die Nicht-Leser von Büchern. Darum steckt in ihrer Klage eine interessante Frage: die nach dem Verhältnis zwischen dem Lesen als elementarer Kulturtechnik der Entzifferung von Schriftzeichen und der Entfaltung der Fähigkeit, einem immer größeren und anspruchsvolleren Spektrum von Lektürestoffen gewachsen zu sein. Manche der Twitterer werden im September zu den Käufern der deutschen Ausgabe von "Harry Potter and the Cursed Child" gehören, einige die englische Ausgabe schon gelesen haben.

Bestseller wie die Harry-Potter-Serie, die vor allem durch junge Leser zu einem internationalen Erfolg wurde, entstehen nicht allein durch Marketing. Ihr dynamisches Element ist die ansteckende Wirkung geglückter Lektüren. Sie ähnelt der "viralen" Verbreitung, von der bei Internet-Erfolgen häufig die Rede ist, und sie beruht auf der Entfaltung der Kulturtechnik Lesen. Und - nicht zuletzt - darauf, dass in der Gegenwart die Medien mindestens so häufig Symbiosen eingehen, wie sie in Konkurrenz miteinander treten.

"Die Generation Harry Potter" oder junge Menschen lesen dicke Bücher

"Harry Potter" begann als Bucherfolg, wurde rasch zum Film und brachte eine Website der Autorin hervor, auf der die Leser zum Schreiben eingeladen wurden. Jetzt ist das alte Medium Theater hinzugekommen. Junge Menschen lesen dicke Bücher. So ließe sich die "Generation Harry Potter" beschreiben, die mit den Büchern aufwuchs. Sie hat nun eine zweite Generation hervorgebracht, der gleich die fertige Reihe zur Verfügung steht.

Ein Element ist dabei stabil geblieben. Es ist sehr alt und begann in der Romantik eine Schlüsselrolle zu spielen: die Verwandlung der Bücher in magische Objekte, die Welten eröffnen und in denen ungeheure Gefahren lauern. "Fantasy" heißt heute die Rubrik, der Harry Potter & Co. meist zugeschlagen werden. Aber die Drachen, Ungeheuer und Feen kommen darin nicht aus fernen Welten, sie gehen aus dem Nahbereich hervor, sie entspringen den Zauberbüchern und der Lektüre.

So war es in Michael Endes Roman "Die unendliche Geschichte", der 1979 erschien und Teile der Generation prägte, die in den 1980er-Jahren aufwuchs; so war es bei der "Tintenwelt"-Trilogie der Deutschen Cornelia Funke, die im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends eine internationale Leserschaft in ihren Bann zog. Zauberzungen, die durch ihr Vorlesen Figuren aus den Büchern herauszogen und verlebendigten, spielten darin eine Schlüsselrolle, aus allen Bestandteilen der Bücher vom Papier über den Einband bis zur Druckerschwärze und Buchrücken gingen die Abenteuer hervor.

Und immer enthielten die dicken Bücher, die von diesen Abenteuern erzählten, eine Vielzahl von Figuren und Nebenhandlungen, und stellten nicht geringe Anforderungen an ihre Leser. Wenn der Vorsitzende des Philologenverbandes recht hat, dann haben diese Bücher en passant auch die Rechtschreibfähigkeiten ihrer Leser verbessert. Aber das war nicht ihr Zweck, und eben daraus, dass sie nicht von der Sorge um die Nicht-Leser, sondern von der Dynamik geglückter Lektüren vorangetrieben wurden, ging ihre Überlegenheit gegenüber den Kampagnen für das Lesen hervor.

Das "gute Buch" als Gegenentwurf zu Kino und Fernsehen?

"Generation Harry Potter" - das ist natürlich eine Übertreibung, so wie "die Generation, die kaum mehr liest", eine Übertreibung des Philologen ist, der sich um die Rechtschreibfähigkeit junger Deutscher Sorgen macht. Die Literatur hatte schon im 20. Jahrhundert ihre Sonderstellung im Bildungskanon eingebüßt. Zumal die Philologen haben darauf nicht immer souverän reagiert. Lange war die Kehrseite der Kampagnen für "das gute Buch" die Verachtung der jüngeren Medien: des Kinos und des Fernsehens, der "Heftchen" und Comic. Oft war diese Verachtung mit der selbstgefälligen Illusion verbunden, Leser seien als solche, gleichgültig, was sie lesen, moralisch hochstehende, aufgeklärt-friedfertige Wesen.

An den Spätfolgen der mit den Kampagnen für das "gute Buch" verbundenen Geringschätzung des Populären leidet die Literatur noch heute. Oft schlägt ihr als Replik die Verpflichtung auf höchstmögliche Popularität entgegen - bei Strafe des Untergangs. Aber nicht nur Harry-Potter-Leser wissen Bücher zu schätzen, die dem Leser Rätsel aufgeben.

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