Süddeutsche Zeitung

Bücher:Das wahre Glück des Lesens

Lesezeit: 4 min

Viele greifen bloß zu Büchern, die nützlich sind. Dabei liegt das Besondere beim Lesen im vermeintlich Überflüssigen.

Von Karl-Markus Gauss

Wer sich ausgerechnet im Internet kundig machen möchte, warum es sinnvoll ist, Bücher zu lesen, richtige Bücher mit Seiten aus Papier und gedruckten Buchstaben darauf, der wird reichlich mit gutem Rat versorgt. Er stößt auf Einträge volksbildnerischer Institutionen und Persönlichkeiten, die uns die "10 Gründe, warum lesen wichtig ist" verraten oder "9 gute Gründe, die für das Buch sprechen" oder auch "Die 7 nützlichen Vorteile guter Lektüre". Bei letzterer Empfehlung habe ich Vorbehalte. Wer gute Lektüre bloß für einen Vorteil hält, noch dazu für einen nützlichen, der ist vielleicht doch nicht beim wahren Glück des Lesens angekommen. Denn er verharrt noch in einem Denken, in dem alles seinen Nutzen haben muss, und zwar einen vorteilhaften, also bei einer Sicht auf die Welt, die die Literatur gerade erschüttern möchte, indem sie uns an die Notwendigkeit des Überflüssigen, vermeintlich Nutzlosen erinnert.

Aber ich mag nicht über andere lästern, die aus anderen Gründen als ich zum Lesen von Büchern auffordern. An zwei Gründe ist gerade in der Vorweihnachtszeit zu erinnern: Erstens sind Bücher vorzügliche Geschenke, sie kosten nicht allzu viel, sind leicht zu transportieren, und wer in eine Buchhandlung geht, kann dort stöbern, um das zu finden, was ihm fehlte, ohne dass er es wusste; und er trifft auf Buchhändlerinnen, die ihn beraten, was das Richtige für ihn oder für ein Geschenk sein könnte, das er jemand ganz Besonderem machen möchte.

Wer Bücher kauft, sichert zudem den Buchhandlungen, diesen Nahversorgern mit Überlebensmitteln, die Existenz, und das ist eine wichtige Sache für unsere Zivilisation, nicht nur, weil es von deren traurigem Verfall zeugen würde, wenn wir beim Erwerb von Büchern auf Amazon angewiesen wären. Wer möchte sich bei Menschen, die er schätzt, schon mit einem Geschenk einstellen, das von schlecht bezahlten, permanent überwachten Arbeitssklaven bereitgestellt und angeliefert wird, deren Dienstherr sein weltweites Imperium darauf gründet, immer neue Tricks zu finden, wie er straflos gegen Arbeitsgesetze verstoßen kann und Steuern, die fällig wären, nicht entrichten muss?

Ja, wer möchte das schon? Offenbar viele, unglaublich viele. Wer den Siegeszug von Amazon und anderen Konzernen der digitalen Ära betrachtet, muss darüber ins Zweifeln kommen, ob der Mensch als Konsument dazu befähigt ist, Mitgefühl zu empfinden oder gar Solidarität zu üben; denn sobald seine Bequemlichkeit oder sein noch so geringer finanzieller Vorteil auf dem Spiel stehen, ist es mit dem einen wie der anderen nicht weit her. Wie es in den Lagerhallen von Amazon zugeht oder was Airbnb auf dem Wohnungsmarkt anrichtet, das ist ja kein Geheimnis, wir alle wissen es; aber Millionen, die über den unerträglichen Druck klagen, dem sie selbst an ihrem Arbeitsplatz ausgesetzt sind, oder über die horrenden Summen, die sie für ihre Wohnungen aufzuwenden haben, bestellen doch alle Tage bei Amazon und mieten sich in den Ferien über Airbnb ein.

Bücher haben es heute schwer

Ehe ich mich in einem völlig nutzlosen Lamento verliere, zurück zu den Büchern. Die haben es heute tatsächlich schwer. Auf einer literarischen Tagung traf ich kürzlich einen Literaturprofessor aus Skandinavien, und weil er mir mit seinem klugen Referat aufgefallen war, fragte ich ihn, ob ich seinem Institut ein Gratisabonnement der von mir herausgegebenen Literaturzeitschrift stiften solle. Da machte der beredte Mann, ein Mensch der Bücher von seiner Profession und aus alter Leidenschaft, verzweifelte Miene und klärte mich auf, welcher Fortschritt über die schwedischen Universitäten verhängt worden sei. Seit zwei Jahren, erfuhr ich, dürfen die Bibliotheken der philosophischen Fakultäten keine Bücher mehr erwerben, weil sie dazu verpflichtet wurden, die bereits vorhandenen zu digitalisieren und neue nur in dieser Form zu erstehen.

Bücher sind also gerade dabei, aus dem Sichtbereich der Studierenden und Forschenden zu verschwinden, werden die Lesesäle doch von ihnen wie von Zeugnissen einer düsteren Ära leer geräumt, dafür aber digital hochgerüstet. Haben Bibliothekare früher geklagt, zu wenig Geld zu haben, um all die Bücher zu bestellen, die sie für wichtig halten, müssen sie sich heute damit abfinden, dass es ihnen nicht einmal mehr gestattet ist, Büchergeschenke anzunehmen.

Wenn in Bibliotheken Bücher wie staubiger Müll behandelt werden, den es zu beseitigen gilt, lobe ich mir den Müllmann José Alberto Gutiérrez, der die Bücher aus dem Müll holt und mit ihnen seine eigenen Bibliotheken schafft. Gutiérrez hat kein Studium der Literatur absolviert, dafür aber 20 Jahre bei der Müllabfuhr der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá gearbeitet, einer Universität des Lebens, die ihn den Wert des Buches lehrte. Rund 50 000 Bücher hat er über die Jahre im Abfall entdeckt und gerettet. Irgendwann kam ihm die Idee, dass gerade Bücher die richtige Sache für die Leute in den Armenvierteln wären. Mittlerweile hat er rund hundert vorstädtische Bibliotheken gegründet und mit einer kleinen Anzahl von Büchern für Kinder und Erwachsene ausgestattet. Seine Kollegen, die seine Leidenschaft anfangs belächelten, sind längst dazu übergegangen, ihm von ihren Touren Bücher mitzubringen, auf dass er sie der Hauptbibliothek in seinem eigenen Häuschen eingliedere oder in eine von deren Filialen bringe.

Zur Weihnachtszeit werde ich manchmal gefragt, welche Bücher ich als Geschenk empfehle. Ob es ein umfangreicher Roman, eine schmale Sammlung stillschöner Gedichte oder ein wohlrecherchiertes Sachbuch ist - gleichviel. Man kann es mit dem, welches Buch es sein soll, auch übertreiben. So wie die beiden russischen Literaturfreunde aus der Stadt Irbit im Ural, die darüber in Streit gerieten, wem die höhere Ehre gebühre, der Prosa oder der Lyrik. Den beiden Betrunkenen war die Frage so wichtig, dass sie erregter und erregter argumentierten, bis der eine das Messer zog und am Ende der Freund der Prosa verblutete, der Verehrer der Lyrik hingegen zum Mörder geworden war.

Bücher sind aber dazu da, dass wir besser leben, nicht dass wir zu töten lernen. Darauf möchte ich nicht nur zur Weihnachtszeit bestehen.

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Quelle:
SZ vom 15.12.2018
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