Bologna-Reform:Kobra-Effekt in den Hörsälen

Bachelor und Master waren eine gute Idee - an sich. Doch besonders am Anspruch der Mobilitätssteigerung ist die Bildungspolitik grandios gescheitert. Daher muss sich einiges ändern im System, sagt der Bielefelder Soziologe Stefan Kühl.

Stefan Kühl

Die Steigerung der Mobilität der Studenten war eines der großen Versprechen der Bologna-Reform, die vor zehn Jahren in Deutschland eingeführt wurde. Studierenden soll, so das Versprechen, durch die Schaffung eines einheitlichen "Europäischen Hochschulraumes" ein höheres Maß an "Mobilität" ermöglicht werden - zwischen Fachbereichen ihrer eigenen Hochschule, zwischen Hochschulen ihres Heimatlandes und ganz besonders zwischen Hochschulen in verschiedenen europäischen Staaten.

An diesem Anspruch der Mobilitätssteigerung ist die Bildungspolitik grandios gescheitert. Studenten klagen, dass die Studienpläne in den Bachelor- und Masterstudiengängen inzwischen so genau spezifiziert und getaktet sind, dass es ein Glücksfall ist, wenn ihnen die Leistungen aus einer ausländischen Hochschule angerechnet werden. Selbst der Wechsel zwischen Hochschulen in einer Stadt ist häufig unmöglich, weil die erbrachten Leistungen nicht anerkannt werden. Kritiker verweisen darauf, dass es angesichts neuer bürokratischer Hindernisse im Rahmen der Bologna-Reform nicht überrascht, dass die Mobilität der Studierenden zwischen Hochschulen während eines Bachelor- oder Masterstudiums eher gesunken als gestiegen ist.

Die Ursache für diese Schwierigkeiten, auch nur für ein Semester an eine andere Universität zu wechseln, liegt in einer bildungspolitischen Innovation, die die Mobilität der Studierenden gerade erhöhen sollte: dem "European Credit Transfer and Accumulation System" oder kurz ECTS. Kreditpunkte für jede Prüfung und jedes Seminar sollten es ermöglichen, Studienleistungen, die beispielsweise an der Université Paris-X-Nanterre erbracht wurden, problemlos mit Studienleistungen in Bielefeld und Oxford zu vergleichen.

Jede einzelne Studienleistung sollte in Zeiteinheiten - den ECTS- Punkten - gemessen werden, die eine stundengenaue Erhebung ermöglichen. Die ECTS-Punkte können von Studierenden in kleinen, bei den Prüfungsämtern angesiedelten elektronischen Schließfächern gesammelt werden, sie können - Stichwort "lebenslanges Lernen" - auch über einen längeren Zeitraum gespeichert werden, um sie später als Element für Qualifikationen nutzen zu können. Sie können an andere Universitäten transferiert sowie gegen ein definiertes Produkt - einen Bachelor- oder Masterabschluss - getauscht werden.

Aber genau dieses vermeintliche Transfersystem hat sich letztlich als das Mobilitätshindernis schlechthin herausgestellt. Leistungen, die an einer ausländischen Universität erbracht werden, können nur unter großen Schwierigkeiten angerechnet werden. Mal hat eine im Ausland belegte Veranstaltung einen Leistungspunkt zu wenig; ein andermal entspricht die "Modul"-Beschreibung an der ausländischen Uni nicht genau derjenigen an der Heimatuniversität. Inzwischen berichten sogar Studenten in Studiengängen für internationale (!) Betriebswirtschaftslehre oder internationales (!) Recht, dass sie die Leistungspunkte der ausländischen Uni nur unter großen Schwierigkeiten angerechnet bekommen. Das auf Kreditpunkten basierende europäische Transfer- und Akkumulationssystem entpuppt sich als ein Hochschulwechselverhinderungsprogramm.

Der Gang ins Ausland wird immer schwieriger

Das Transfersystem ähnelt dem sogenannten Kobra-Effekt. Eine Kobra-Plage in Indien veranlasste den Gouverneur der britischen Kronkolonie zu der Entscheidung, eine Prämie für jeden abgelieferten Schlangenkopf auszuloben. Statt die frei lebenden Schlangen zu töten, gingen die Inder jedoch schon bald dazu über, Kobras zu züchten, weil sie so mit deutlich weniger Aufwand ihre Prämien kassieren konnten. Als der Gouverneur davon erfuhr, schaffte er das Kopfgeld ab, worauf die KobrasTeaser für die Züchter wertlos wurden und von ihnen in die Freiheit entlassen wurden. Wie man durch das Kobra-Tötungs-Förderungsprogramm am Ende mehr Kobras hatte, so hat man durch das Mobilitätsförderungsprogramm am Ende mehr Immobilität der Studierenden.

Ein Auslandssemester funktioniert seit der Bologna-Reform nur noch, weil inzwischen die Prüfungsämter angehalten werden, die Studienleistungen aus dem Ausland "großzügigst anzurechnen". Wenn eine Veranstaltung zwei Leistungspunkte zu wenig hat, dann werden die fehlenden Punkte in einem magischen Verwaltungsakt mit hinzugezählt. Wenn ein Seminar nicht den Ansprüchen der Heimatuniversität entspricht, wird dies in den Prüfungsämtern kurzerhand angeglichen. Wenn man das Kreditpunktesystem auch nur halbwegs ernst nimmt, dann ist die von einigen Rektoraten und Präsidenten auch offiziell geäußerte Aufforderung zur "flexiblen Anrechnung" nichts als eine Aufforderung an die Prüfungsämter, "brauchbare Illegalität" walten zu lassen. Weswegen hält die Bildungspolitik aber dann an diesem ECTS-Punkte-System fest, obwohl es sich als Mobilitätsverhinderungsprogramm entpuppt hat? Weswegen wird das Punktesystem, das an den Hochschulen zu kafkaesken Bürokratisierungserscheinungen geführt hat, nicht einfach eingestellt?

Kein Bildungs- oder Wissenschaftsminister wagt es noch, die ECTS-Punkte aktiv zu verteidigen - zu offensichtlich sind die negativen Effekte. Die abstrakten Zeiteinheiten der Kreditpunkte sind noch nicht einmal zwischen europäischen Staaten standardisiert. Für den Erwerb eines Leistungspunktes sollen Studierende in Deutschland, Rumänien oder auch der Schweiz 30 Stunden benötigen, in Portugal und Dänemark 28 Stunden, in Finnland 27 Stunden, in Estland 26 Stunden und in Österreich, Italien oder Spanien 25 Stunden. Für ein formal gleichrangiges Bachelorstudium mit 180 ECTS-Punkten müssen also Studenten in Österreich 900 Stunden weniger aufbringen als ihre Kommilitonen in Deutschland. Diese Regelung, die auf eine übereilte Einführung zurückzuführen ist, ist letztlich aber egal, weil Studien gezeigt haben, dass zwischen den für Veranstaltungen, Prüfungen und Selbststudium in ECTS-Punkten kalkulierten Zeiteinheiten und den real von den Studenten verwendeten Zeiten ohnehin kaum Übereinstimmungen bestehen.

Angesichts des hohen Fiktionsgehalts der bildungspolitischen Planzahlen für jeden einzelnen Studiengang wirken die Kalkulationen in den sozialistischen Planwirtschaften der UdSSR, der DDR oder Albaniens im Nachhinein fast schon realitätsnah. Aber trotz dieses Fiktionsgehalts hat sich bisher kein Bildungspolitiker an die Zurücknahme dieses Planungsinstruments herangewagt.

Der Grund ist nicht etwa eine inhaltliche Überzeugung, sondern eine inhaltliche Verhakung der europäischen Bildungspolitiker. Die Einführung der ECTS-Punkte mag - so das inzwischen zu hörende Zugeständnis - ein Fehler gewesen sein, aber als einzelnes Bundesland, als Kanton oder Region könne man aus dem europäischen Konzert nicht ausscheren. Zu viele Staaten, so das Argument, hätten sich schon auf eine gemeinsame Vorgehensweise geeinigt. Selbst Staaten wie Moldawien, Russland oder Kasachstan, die normalerweise nicht unbedingt zu den Referenzländern der EU gerechnet werden, würden sich inzwischen zu den Prinzipien eines gemeinsamen europäischen Hochschulraums bekennen und hätten das Leistungspunktesystem mühsam eingeführt. "Bolognaropa" erstrecke sich, so die Argumentation, jetzt schon von Tromsø bis Nikosia, von Reykjavik bis Wladiwostok, da gebe es bei aller berechtigten Kritik an den bürokratischen Auswirkungen des Leistungspunktesystems einfach keinen Weg mehr zurück.

Beschleunigen oder Abbremsen?

In der Organisationsforschung wird eine solche "Verriegelung" von ineffizienten, teilweise auch kontraproduktiven Prozessen aufgrund einer Standardisierung als "lock in" bezeichnet. Das bekannteste Beispiel ist das "QWERTY"-Tastaturlayout. Die QWERTY-Tastatur, benannt nach den ersten sechs Buchstaben auf der obersten Reihe der US-Schreibmaschinentastaturen, dominiert heute - mit minimalen länderspezifischen Modifikationen - die Gestaltung von Schreibmaschinen und Computern. Das QWERTY-Layout, mit dem sich heute jeder mehr oder minder intensiv herumquält, ist jedoch ein ineffizientes und benutzerunfreundliches System, weil die am häufigsten benutzten Tasten vergleichsweise schwer zu erreichen sind.

Das heute noch genutzte Tastaturlayout wurde 1873 entwickelt, um die Sekretärinnen in ihrer Tippgeschwindigkeit abzubremsen. Die Typenhebel der damals in Mode kommenden mechanischen Schreibmaschinen drohten sich zu verhaken, wenn die Schreibkräfte zu schnell wurden: man brauchte also eine Tastaturanordnung, die die Schreibgeschwindigkeit reduzierte. Als die Remington Sewing Machine Company in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mit der Massenproduktion von Schreibmaschinen mit der QWERTY-Tastatur begann, eigneten sich aber immer mehr Schreibkräfte dieses System an. Andere Schreibmaschinenhersteller waren deswegen gezwungen, sich anzupassen. Nach und nach verschwanden andere, höhere Tippgeschwindigkeiten zulassende Modelle vom Markt, und heute, da die technischen Möglichkeiten von Computern keine Begrenzung mehr für ein effektiveres System darstellen würden, ist aufgrund dieser Verriegelung durch Standardisierung die QWERTY-Tastatur wohl für immer Teil der Tippkultur geworden.

Die Initiative zur Zurücknahme des ECTS-Punktesystems scheint also nur von den Universitäten selbst ausgehen zu können. Genauso wie sich immer mehr Hochschulen inzwischen weigern, sich jeden Studiengang durch ein aufwendiges, kostspieliges und letztlich ineffizientes Akkreditierungswesen anerkennen zu lassen, wird in den ersten Hochschulen darüber diskutiert, ob man auf die Darstellung von Bachelor- und Masterstudiengängen in ECTS-Punkten nicht einfach verzichten kann. Dies würde die Anrechnung von Studienleistungen aus anderen Hochschulen erheblich erleichtern - und den Studenten die gewünschte Mobilität ermöglichen.

Stefan Kühl ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Von ihm ist unlängst das Buch "Der Sudoku-Effekt. Hochschulen im Teufelskreis der Bürokratie" (transcript Verlag 2012) erschienen.

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