Süddeutsche Zeitung

Bildungssenator in Hamburg:"Sitzenbleiben nützt nichts und verschwendet viel Geld"

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Schlechte Noten werden am Ende des Jahres mit einem "Nicht versetzt" bestraft. Diese Konsequenz gilt noch immer in den meisten Bundesländern. Bildungssenator Ties Rabe hat das Sitzenbleiben in Hamburg abgeschafft. Im SZ-Gespräch erklärt der ausgebildete Lehrer, warum.

Von Roland Preuß

Fünf Jahre hat Ties Rabe, 52, selbst an einem Gymnasium unterrichtet: Deutsch, Religion, Geschichte und Gemeinschaftskunde. Dann wurde er Bildungssenator in Hamburg. Er hat den Plan seiner grünen Vorgängerin, das Sitzenbleiben abzuschaffen, fortgeführt - und beschleunigt.

SZ: Herr Senator Rabe, inwiefern ist Sitzenbleiben noch zeitgemäß?

Ties Rabe: Alle Wissenschaftler sagen, dass Sitzenbleiben mehr schadet als nützt. Die Praxis zeigt: In den meisten Staaten funktioniert Schule ohne Sitzenbleiben mindestens genauso gut. Denn wer in Englisch, Latein und Physik eine Fünf hat, muss doch nicht ein ganzes Jahr lang auch alle anderen Fächer noch einmal durchmachen. Sitzenbleiben ist deshalb längst nicht mehr zeitgemäß, sondern schlicht unvernünftig und Zeitverschwendung. Allerdings muss man die Abschaffung des Sitzenbleibens begleiten: Wer in der Schule den Anschluss verliert, braucht zusätzliche Lernförderung - vor allem in Kernfächern wie Deutsch oder Mathematik sowie in Fächern, in denen es schwer ist, Verlorenes später nachzuholen.

Sie waren selbst einmal Lehrer - wie ist Ihre Einschätzung jenseits wissenschaftlicher Studien?

Sitzenbleiben ist mit Schmerzen und Tränen verbunden, es ist eine große emotionale Belastung für Kinder und Jugendliche. Mit dieser Last starten sie in die neue Klasse. Sie sind angeschlagen und das merkt man auch an ihren Leistungen. Hinzu kommt ihre Sonderrolle als Neue in der Klasse, es braucht zusätzlich Zeit und Kraft, sich da einzufinden. Ich habe in der Praxis erlebt, was Wissenschaftler nachweisen: Der Wissensvorsprung der Wiederholer verpufft schnell. Sitzenbleiben verschwendet Lern- und Lebenszeit.

Wie verfahren Sie mit Schülern, die notorisch überfordert sind oder in ihrer Entwicklung verzögert? Kann da der Schritt in eine Klasse tiefer nicht sogar helfen?

Ja. Bei einer Verzögerung in Wachstum und Entwicklung oder längeren Krankheits- oder Fehlzeiten muss man die Tür für Klassenwiederholungen offenhalten. Ich vertrete keinen missionarischen Dogmatismus. Es ist aber völlig unangemessen, wie viele Schüler zurzeit sitzenbleiben.

Hamburg hat bereits begonnen, das Sitzenbleiben grundsätzlich abzuschaffen. Wie sind Ihre Erfahrungen?

Die neuen Regeln sind an den Schulen gut angekommen. Wir haben sehr selten Streit um das Zurücksetzen. Natürlich lässt sich eine Jahrzehnte alte Schulkultur nicht so ohne weiteres umgestalten. Aber bislang lief der Wandel erstaunlich geräuschlos ab. In Hamburg gilt: Alle Schüler, die in einem Fach eine Fünf im Zeugnis haben, müssen in diesem Fach verpflichtend an einer kostenlosen, wöchentlichen Lernförderung in der Schule teilnehmen, und zwar je nach Bedarf drei bis zwölf Monate lang.

Was sagen Sie Lehrern, die Durchfallen als Instrument zur Disziplinierung erhalten wollen?

In meiner Schulzeit wurde sogar noch geprügelt. Damals sagten viele, ohne Prügelei würden Disziplin und Konzentration untergraben. Ich glaube, dass sich Pädagogik ändert und auch ohne solche Mittel auskommt. Unsere Schüler sind zurzeit trotz des Sitzenbleibens doch auch nicht disziplinierter als in anderen Ländern, wo es kein Sitzenbleiben gibt. Aus unseren Schulen höre ich aber umgekehrt, dass Lehrer und Schüler auch die verpflichtenden Mathe-Förderstunden für disziplinierend halten.

Können Sie die Abschaffung Ihren Länderkollegen also nur empfehlen?

Ja, Sitzenbleiben frustriert, nützt nichts und verschwendet viel Geld. Jedes zusätzliche Schuljahr kostet zwischen 4500 und 6000 Euro. Das Geld kann man für gezielte Lernförderung viel besser einsetzen. So haben beide Seiten etwas davon.

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