Süddeutsche Zeitung

Bildungspolitik:"Schule kann das alleine nicht leisten"

Warum mehr als 5000 Menschen in einer Petition einen Bildungsrat für Bildungs­gerechtigkeit fordern.

Interview von Paul Munzinger

Im Herbst 2017 haben renommierte Bildungsforscher und -praktiker eine OnlinePetition gestartet. Ihre Forderung: die Einrichtung eines Bildungsrats für Bildungsgerechtigkeit. An diesem Montag übergeben sie die Unterschriftenliste an die Bundesregierung, den Bundespräsidenten und die Kultusminister. Hans Brügelmann ist einer der fünf Initiatoren der Petition.

SZ: Herr Brügelmann, 5700 Leute haben Ihre Petition unterzeichnet. Zufrieden?

Hans Brügelmann: Verglichen mit den 250 000 Menschen, die sich gegen die Einschläferung eines Kampfhundes eingetragen haben, ist es wenig. Wenn man sich aber anschaut, wie schwer sich politisch fokussierte Petitionen tun, können wir zufrieden sein. Zumal 200 Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten Bereichen des Bildungswesens als Erstunterzeichner unterschrieben haben. Das Problem, auf das wir hinweisen, wird wahrgenommen.

Einen Bildungsrat will nun doch auch die Bundesregierung einrichten, er soll sich um die bessere Vergleichbarkeit von Abschlüssen und um bessere Bildungschancen kümmern. Ist Ihr Ziel damit erreicht?

Damit ist eine Tür geöffnet, aber der Auftrag ist uns zu allgemein. Wir wollen konkret gegen ein Problem vorgehen, das sich immer weiter verschärft: die Ungerechtigkeit in der Bildung. Uns brennt die Frage nach den Bildungsverlierern auf den Nägeln: Wie können wir verhindern, dass 15 Prozent der jungen Menschen die Schule verlassen, ohne das gelernt zu haben, was sie für gesellschaftliche Teilhabe und ein erfolgreiches Berufsleben brauchen? Da reicht es nicht, sich über die Angleichung von Lehrplänen Gedanken zu machen.

Bringt das deutsche Bildungssystem viele Verlierer hervor?

Ja, wobei man nicht einfach sagen kann: Das Bildungssystem bringt Verlierer hervor. Die Gesamtsituation führt dazu, dass Kinder, die aus schwierigen Verhältnissen kommen, überall benachteiligt werden, wo sich ihre Bildung entscheidet: Unter welchen Bedingungen wächst das Kind auf, welche Unterstützung erhält es von der Familie, in welche Kita kommt es, auf welche Schule? Der soziale Hintergrund entscheidet immer mit.

Spätestens seit dem Pisa-Schock 2001 ist die Chancengerechtigkeit eines der wichtigsten Anliegen der Politik. Haben die Reformen seitdem nichts gebracht?

Viele Bundesländer haben die Hauptschule, die zu Recht als Restschule galt, aufgehen lassen in Sekundar- oder Gemeinschaftsschulen, oder wie sie sonst heißen. Aus drei Säulen wurden zwei, aber das Problem wurde nicht gelöst: Das Gymnasium zieht heute in so hohem Maße die leistungsstärkeren Schüler an, dass nun die Gemeinschaftsschule vielerorts die Restschule ist. Kinder mit schlechten Chancen bleiben hier unter sich. Das Ergebnis ist ein Zwei-klassensystem.

Wie sähe denn ein gerechtes System aus?

Ein völlig gerechtes Bildungssystem ist ein Ideal, das sich nicht umsetzen lässt. Es geht darum, die Kräfte zu minimieren, die dem entgegenwirken. In Deutschland glauben wir, dass es gerecht zugeht, wenn wir alle Schulen gleich ausstatten. Das stimmt nicht. Wir brauchen das, was man positive Diskriminierung nennt. Wir müssen Ungleiches ungleich behandeln - und die Ressourcen da verstärken, wo Benachteiligung besteht: in armen Stadtteilen, wo den Schülern Chancen vorenthalten werden, die anderswo selbstverständlich sind.

Es gibt doch Maßnahmen, die Unterschiede ausgleichen sollen, etwa mehr Lehrerstunden für Schulen in Problemlagen.

Diese Maßnahmen sind richtig, aber sie reichen nicht aus. Das Lernen und die Entwicklung der Kinder hängen von viel mehr ab als vom Unterricht am Vormittag. Wir brauchen Programme, die über die Schule hinausgehen, die die Kinder und deren Eltern einbeziehen - wie in vielen skandinavischen und angelsächsischen Ländern.

Schule kann also nicht mehr für Gerechtigkeit sorgen?

Schule kann das alleine nicht leisten, und Bildungspolitik kann heute nicht mehr nur Schulpolitik sein. Es geht um Stadtentwicklung, um Sozialpolitik, um Wirtschaftspolitik. Wir müssen die Mütter in der Schwangerschaft unterstützen. Wir brauchen Familienzentren, wo Eltern lernen, wie wichtig Spielen und Vorlesen sind, wo sie Sprachkurse erhalten. Wir brauchen Programme, die den Kindern Perspektiven aufzeigen. Paten aus einem anderen Milieu zum Beispiel, die sie fordern, aber auch unterstützen, wo es die Familie nicht kann. Wir müssen verhindern, dass in Städten Ghettos entstehen, dass Arm und Reich sich in der Gesellschaft und der Schule nicht mehr begegnen. All diese Fragen müssten in einem Bildungsrat kompetent diskutiert werden können.

Wer müsste dort also hinein?

Er darf kein reines Wissenschaftsgremium sein. Es müssten Fachleute aus der Praxis zusammenkommen, die in der Kita arbeiten, der Schule, der Gesundheitsversorgung, in Wohlfahrtsverbänden, in der Stadtplanung. Nur so können wir das Problem in seiner ganzen Breite angehen. Einige von uns halten sogar eine Bürgerversammlung für den besten Weg.

Sie fordern auch, dass Schülerströme gesteuert werden. Wie soll das gehen?

In den USA hat man versucht, Schüler aus Armutsvierteln in die besseren Viertel zu transportieren und umgekehrt, aber dieses "Bussing" funktioniert nicht. Doch man kann Schülerströme indirekt steuern - durch das bessere Angebot. Wir müssen Schulen in den armen Vierteln so gut ausstatten, dass sie attraktiv werden für die Eltern aus anderen Vierteln. Parallel müssen Maßnahmen gegen die soziale Entmischung der Quartiere ergriffen werden.

Das alles sind große gesellschaftliche Probleme. Die soll nun ein Bildungsrat lösen?

Nein, aber er kann ein Umdenken einleiten. Die Bildungsdiskussion der letzten 20 Jahre ist auf die Schule, auf Leistungstests fixiert gewesen. Uns muss aber klar sein, dass die Entwicklung von Kindern durch viele Bedingungen beeinflusst wird, von denen die meisten außerhalb der Schule liegen. Der Unterricht ist nur ein Faktor. Das müssen wir in die Köpfe der Politiker bringen.

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Quelle:
SZ vom 28.05.2018
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