Süddeutsche Zeitung

Zurück zum neunjährigen Gymnasium:Lernen ohne Turbo

Lange hielt die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre Schüler, Lehrer und Eltern in Atem - jetzt kommt die Rolle rückwärts: NRW und Schleswig-Holstein wollen das neunjährige Gymnasium wieder einführen.

Tanjev Schulz

Für Andrea Hesse gibt es immer weniger gute Gründe, Gymnasiasten in acht Jahren zum Abitur zu hetzen. Am Ende des Lebens sollen ohnehin alle länger arbeiten, und wenn der Wehrdienst entfällt, werden die jungen Männer auch früher im Beruf anfangen. "Warum kürzt man ihnen dann noch die Zeit für Bildung?", fragt Hesse.

Während sich andere Eltern mit dem von neun auf acht Jahre verkürzten Gymnasium (G8) arrangiert haben, kämpft sie weiter gegen das "Turbo-Abi". Hesse und ihre Mitstreiter sammeln Unterschriften für ein Volksbegehren in Niedersachsen. Mehr als 150.000, sagen sie, haben sie schon zusammen. Das reicht zwar noch lange nicht. Aber die G-8-Gegner fühlen sich beflügelt von der Entwicklung in anderen Bundesländern.

Denn in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben die Landesregierungen auf die Elternproteste reagiert. Die Schulen sollen dort selbst entscheiden dürfen, ob sie zum neunjährigen Gymnasium (G9) zurückkehren. Wieder mal soll es schnell gehen: In Nordrhein-Westfalen wurden die Schulen erst in den vergangenen Tagen über die Pläne informiert, und bereits bis Ende November sollen sie ein Votum der Lehrer- und Schulkonferenzen einholen. Große Gymnasien könnten dann in Zukunft das G8 und G9 sogar parallel anbieten.

Zunächst aber stehen den Schulen hitzige Debatten bevor. Schon in den vergangenen Monaten lagen mancherorts die Elternvertreter miteinander im Clinch, weil sie sich nicht auf eine gemeinsame Position zum G8 einigen konnten. Der Dachverband in Nordrhein-Westfalen, die "Landeselternschaft der Gymnasien", hat sich jetzt gegen die neue Wahlfreiheit ausgesprochen: Es müsse endlich einmal Ruhe an den Schulen einkehren, das "Hü und Hott der Schulpolitik" ein Ende haben. Auch der Philologenverband, in dem viele Gymnasiallehrer organisiert sind, prophezeit sonst ein "heilloses Organisationschaos". Schon wieder neue Lehrpläne und Schulbücher? Nein, danke.

Mit dem G8 arangiert

In Schleswig-Holstein muss das neue Schulgesetz der CDU-FDP-Regierung noch den Landtag passieren. Die rot-grüne Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen umgeht den parlamentarischen Weg, indem sie die Wahlfreiheit zwischen G8 und G9 als einen "Schulversuch" deklariert. Der ist allerdings aus rechtlichen Gründen begrenzt: Maximal zehn Prozent der Gymnasien im Westen - das wären etwa 60 Schulen - können sich daran beteiligen und zum G9 zurückkehren.

Allzu groß ist das Interesse zumindest bei den Schulleitern ohnehin nicht. Anni Schulz-Krause beispielsweise, Direktorin des Schiller-Gymnasiums in Köln, sagt zwar, für die Eltern sei es "eine Bereicherung, eine Auswahl zu haben". Sie selbst würde aber lieber beim G8 bleiben und nicht schon wieder alles umschmeißen. Ein "Zickzackkurs" bekomme den Menschen und den Schulen nicht. Schulz-Krause hat auf das G8 reagiert, indem sie ihr Gymnasium zu einer echten Ganztagsschule ausbaut.

Das Hin und Her zwischen G8 und G9 könnte außerdem neue Hürden für die Mobilität im deutschen Föderalismus aufbauen. Im Osten und Süden steht eine Wahlfreiheit für die Landesregierungen gar nicht zur Debatte. Bayern und Baden-Württemberg laborieren zwar nach wie vor daran, die Schüler im G8 zu entlasten. Die baden-württembergische Kultusministerin Marion Schick (CDU) betont jedoch, eine "Rolle rückwärts" werde sie beim G8 bestimmt nicht mitmachen.

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SZ vom 27.09.2010/mob
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