Bildungspolitik:"Bildungsfern" ist grausamer als "ungebildet"

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Ein Begriff macht Karriere - zum Ärger des Schweizer Pädagogen Roland Reichenbach. In seiner Familie gab es kein Bücherregal. Heute ist er Professor an der Uni Zürich.

Von Johan Schloemann

Schulen und Universitäten neigen inzwischen zur Zweiteilung: Eine Hälfte kommt hinein in die höhere Bildung, die andere nicht. Gegen alle guten Absichten, die dahinter stecken, droht so eine neue Ungerechtigkeit zu entstehen, größer und krasser womöglich als die Ungerechtigkeit eines stärker differenzierten Bildungssystems, die man auf diesem Wege überwinden wollte.

Wohl kein Wort drückt dieses Problem deutlicher aus als der bei Politikern, Bildungsexperten und Soziologen beliebte Begriff "Bildungsferne" oder "bildungsferne Schichten". Darauf weist jetzt der originelle Schweizer Pädagoge Roland Reichenbach hin, in einem sehr bedenkenswerten Aufsatz im aktuellen Heft der Zeitschrift Merkur (69/2015). "Man sagt ,bildungsfern' und denkt ,ungebildet'", schreibt Reichenbach. Seine ohnehin schon plausible Kritik gewinnt ihre Wucht auch noch durch eine biografische Beglaubigung: In der Familie, in der Roland Reichenbach in den Berner Alpen aufwuchs, gab es kein Bücherregal. Und heute ist er Professor an der Universität Zürich.

Kaum überwindbare geografische Barriere

Der Ausdruck "bildungsfern", als verständnisvoller Euphemismus gedacht, ist in Wahrheit grausamer als "ungebildet". Das Ungebildetsein lässt lebenslange Entwicklungsmöglichkeiten offen - und Diskussionen darüber, was eigentlich zum Kanon des Wissens gehört. Die "Bildungsferne" aber verkennt den prozessualen Charakter, das Unabgeschlossensein jeder Bildung und errichtet stattdessen eine kaum überwindbare geografische Barriere.

Wer über Bildungsferne klagt, verlangt zugleich zu viel von der Bildung (nämlich die Überwindung aller sozialen Unterschiede) und zu wenig (nämlich nicht die Förderung aller möglichen menschlichen Fähigkeiten). Roland Reichenbach bringt es auf den Punkt: "Die bemerkenswerte Verarmung der Sprache der Bildung, die sich an der weitgehenden Gleichsetzung von Bildung mit Schul- beziehungsweise Bildungsabschluss feststellen lässt, ist ein Indiz dafür, wie wenig die erziehungswissenschaftliche und vor allem politisch geförderte empirische Bildungsforschung noch an den tatsächlichen Lern- und Bildungsprozessen der Menschen in ihrer Lebenswelt interessiert ist. In dieser begrifflichen und ideellen Verarmung liegt die Wurzel des verachtenden Ausdrucks ,bildungsfern'."

© SZ vom 06.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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