Studium:Gibt es wirklich zu viele Studenten?

Studium: Julian Nida-Rümelin ist Professor in München. Der Ex-Kulturstaatsminister im Kabinett von Gerhard Schröder sieht einen "Akademisierungswahn".

Julian Nida-Rümelin ist Professor in München. Der Ex-Kulturstaatsminister im Kabinett von Gerhard Schröder sieht einen "Akademisierungswahn".

(Foto: Stephan Rumpf)
  • Seit Jahren prangert der Philosoph Julian Nida-Rümelin den "Akademisierungswahn" in Deutschland an.
  • Tatsächlich haben 2015 fast doppelt so viele Menschen ein Studium aufgenommen wie vor 20 Jahren.
  • Auf der Bildungsmesse Didacta diskutierte Nida-Rümelin mit dem Vizepräsidenten der Hochschulrektorenkonferenz, Holger Burckhart.

Von Johann Osel, Köln

Wie ein Handlungsreisender zieht er durch die Republik, das Produkt, das er in Vorträgen und auf Podien unermüdlich bewirbt, ist eine These: Deutschland sei im "Akademisierungswahn", sagt der Münchner Philosoph Julian Nida-Rümelin, durch stark steigende Studentenzahlen stecke die Bildung in einer Doppelkrise: Wissenschaft verliere ihre fachliche Tiefe, berufliche Bildung ihr Fundament. Sich selbst nennt er einen "Dissidenten gegen die herrschende Bildungsideologie". Der Professor gefällt sich in der Rolle des intellektuellen Bad Boys. Zustimmung erhält er meist von jenen, denen der Trend zum Studium zu schaffen macht: Betrieben und Kammern, die über ausbleibenden Azubi-Nachwuchs klagen. Nida-Rümelin wird aber oft belächelt oder kritisiert, in der Politik und der eigenen Zunft, der Hochschulszene.

Daher war sein Auftritt vergangene Woche in Köln, auf der Bildungsmesse Didacta, überraschend. Einen zweiten Philosophie-Professor hat man auf das Podium gesetzt: Holger Burckhart, Chef der Uni Siegen und als Vize-Präsident der Rektorenkonferenz HRK auch Stimme aller Hochschulen. Überraschend war nicht Nida-Rümelins Haltung, wer ihm öfter zuhört, kennt sogar die Garnierung der These, Statistiken, Schnurren. Überraschend war ebenso wenig, dass, wenn zwei Philosophen plaudern, ein Dritter wenig zu Wort kommt - dem Vertreter der Industrie- und Handelskammer Köln erging es so. Überraschend war, dass der Münchner Professor und der HRK-Funktionär in ihren Ansichten dicht beieinander lagen. Die Sorge über den "Akademisierungswahn" scheint den Status als Außenseitermeinung zu verlieren und langsam Konsens zu werden.

Zahlen - ohne Wertung - belegen, dass Studieren immer mehr zum regulären Bildungsweg wird. Eine halbe Million Studienanfänger gab es 2015 zum wiederholten Mal; vor zehn Jahren waren es 350 000, vor 20 Jahren 260 000. Im Gegenzug bleiben jedes Jahr Zehntausende Azubi-Plätze unbesetzt. Nida-Rümelin und Burckhart betreiben Ursachenforschung. Auf das Jahr 2006 datiert der Rektor den Beginn einer "Offensive, die Hochschulen zu öffnen". In der Politik sei die Devise ausgeben worden, "wer nicht studiert, der hat ein Defizit" - und man "suggerierte dabei, dass jeder studieren kann, jeder das Potenzial hat". Laut Burckhart war das der Auslöser eines "Umschwungs in der politischen Stimmung, munitioniert mit Geld", nämlich befristeten Mitteln für neue Studienplätze. Als Beispiel seine Uni in Siegen: Das Gelände sei für 7500 Studierende ausgelegt - jetzt zähle man 19 000, "wie im Hühnerstall".

Es ist eine wohltuend andere Rhetorik als die offiziellen Beschlüsse der Rektoren. "Wir haben zunehmend große Studierendenkohorten, die nicht wegen eines wissenschaftlichen Studiums kommen, sondern zur Berufsvorbereitung", so Burckhart. Viele Leute seien "mit der Kohorte einfach in die Uni gerannt". Er warnt davor, dass Studiengänge nun "noch stärker an Berufsbilder herangeführt werden". Stattdessen müsse man verstärkt Neigung und Eignung darauf prüfen, wer wirklich akademische Bildung anstrebe - und wer sich eine Ausbildung erhoffe an der Uni, sie nicht bekomme und womöglich abbreche.

Grafik Studienanfänger
(Foto: Statistisches Bundesamt)

Zum Vergleich, Nida-Rümelins These lautet so: "Es ist falsch, Jugendlichen zu suggerieren, dass sie auf ihrem Bildungsweg gescheitert sind, wenn sie nicht die Hochschulreife erwerben und dann ein Studium aufnehmen." Eine fatale Folge sei der Trend, "möglichst viele Ausbildungsberufe zu akademisieren". In Köln konkretisiert er das, spricht von einem "Verdrängungswettbewerb": Bachelor-Absolventen in Architektur heuerten als technische Zeichner an, Betriebswirte übernähmen Sachbearbeiteraufgaben.

Angst um das Duale System

Und was ist zu tun? Der IHK-Vertreter kommt zu Wort, beruflicher Bildung fehle das "Marken-Image". Schuld seien auch die Medien - im Fernsehen sehe man viele Serien, in denen Ärzte und Juristen "ein tolles Leben führen". Besser informieren in den Schulen, empfiehlt Burckhart; Schüler "nicht mit Informationen füttern, füttern, füttern", sondern sie Interessen und Stärken entdecken lassen. Das heißt auch, dass Akademikerkinder nicht studieren, wenn ihnen eine Berufsausbildung besser liegt. Als Befürworter einer "Abschottung" der akademischen Kaste, sagt Burckhart, habe er Nida-Rümelin auch nie verstanden.

Letzterer, übrigens Sohn eines Bildhauers, fordert einen neuen Bildungsbegriff. "Manche Städte haben 70 Prozent Abiturientenquote. Es kann nicht sein, dass Gymnasiasten von ihren technischen oder sozialen Fähigkeiten höchstens am Rande etwas mitbekommen." Sonst gehe das "Duale System vor die Hunde" - Folge des "Akademisierungswahns". Den kennt auch der Veranstalter des Podiums, der Verband der Bildungswirtschaft. Hinter den Gästen prangt da an der Wand: Akademisierungswahn in Deutschland: Wer rettet das Image der Ausbildung? Als fester Begriff, und ohne Anführungszeichen.

Uni-Städte in Deutschland

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