Bildungsforscher Hurrelmann über das G8:"Eine gewaltige Druckwelle"

Zu viel Stress, zu wenig Zeit für Freizeit, zu viel Nachhilfe. Das achtjährige Gymnasium wird zu Recht kritisiert, sagt Bildungsforscher Klaus Hurrelmann. Trotzdem warnt er vor raschen Korrekturen.

Roland Preuß

Klaus Hurrelmann erforscht seit Jahrzehnten die Jugend und das Schulsystem in Deutschland. Der Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler hat sich immer wieder in die Debatte um die Reform der Gymnasien eingemischt. Dabei nimmt er nicht nur Fragen des Lehrplans oder der Schulformen ins Visier, sondern auch die gesundheitlichen und pädagogischen Wirkungen. Hurrelmann, früher viele Jahre Professor an der Universität Bielefeld, lehrt und forscht an der Hertie School of Governance in Berlin.

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SZ: Baden-Württemberg und Hessen experimentieren mit dem neunjährigen Gymnasium, Bayern führt im achtjährigen Gymnasium (G 8) ein Intensivierungsjahr ein. Erleben wir den schleichenden Abschied vom G 8?

Hurrelmann: So sieht es aus. Nachvollziehbar ist das aber nicht, weil wir keine neue Lage haben. Nur die Ablehnung von Eltern, Lehrern, aber auch Schülern nimmt eher noch zu, doch an den Argumenten hat sich nichts geändert. Mit dem jetzigen Aktionismus signalisiert man der Bevölkerung wieder einmal: Die Bildungspolitiker wissen nicht, wohin sie steuern.

Ist die anhaltende, breite Ablehnung des G 8 nicht schon für sich genommen ein Argument?

In einer demokratischen Bildungsgesellschaft ist das immer ein Argument, ja. Doch nun haben wir gerade einmal die ersten Abschlussjahrgänge des achtjährigen Gymnasiums gesehen. Natürlich gibt es auch beim G 8 Anfangsprobleme. Das Projekt war schlecht vorbereitet, es wurde holterdiepolter eingeführt. Kein Wunder, dass es von Anfang an zu Protesten kam.

Eltern und Schüler sagen nun seit Jahren: Es ist zu viel Stress, zu wenig Zeit für Sport- oder Musikvereine, zu viel Bedarf an Nachhilfe. Ist das so abwegig?

Nein, die Punkte bauen auf realen Beobachtungen auf. Doch dies wurzelt nicht im G 8 an sich, sondern darin, dass mit der Reform der Tagesablauf an den Schulen zu wenig verändert wurde: Man müsste die Ganztagsschule mehr nutzen, für einen rhythmisierten Stundenplan, also einen Wechsel zwischen Erholungsphasen und Herausforderungen. Wir brauchen einen neuen Biorhythmus für den Unterricht. So kann man auch Sport, Musik und Hausaufgaben besser in das Gymnasium einbauen. Bislang macht das nur Rheinland-Pfalz in Ansätzen, die anderen versäumen das.

Wie sehen Sie die pädagogischen Folgen - lernen die Schüler mit mehr Stunden im jüngeren Alter besser?

Die lernpsychologischen Argumente für das G 8 waren von Anfang an schwach. Natürlich ist es gut, wenn man für das Lernen angemessen Zeit hat, deshalb ist ein größerer Freiraum zunächst von Vorteil. Aber die Zeit muss richtig getaktet sein. Bislang war die Jahrgangsstufe 11 immer eine Pufferzeit, in der andere Schüler hinzugekommen sind und zunächst auf den gleichen Leistungsstand gebracht werden mussten; oder das Jahr wurde genutzt, um ins Ausland zu gehen.

Gegen den Leerlauf

Kann im G 9 die Persönlichkeit besser reifen, wie die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sagt?

Das kann sie, aber nur unter bestimmten Bedingungen. Den Schülern nur ein Jahr mehr zu geben, ist kein pädagogisches Konzept. Es kommt darauf an, was man daraus macht, es muss also ein Plan dahinterstehen. Da hat das alte Gymnasium sehr viele Schwächen gehabt.

Welche?

In dem System mit 13 Schuljahren führte der Übergang nach der 10. Klasse in einen Korridor mit vielen Freiräumen. Das ist zunächst einmal positiv, aber es fehlte die Struktur. Aus diesem Grund entstand viel Leerlauf, vor allem in Jahrgangsstufe 11.

Nun ist der Leerlauf geringer geworden, dafür hört man immer wieder, der Stress im G 8 mache Kinder krank. Wissenschaftliche Belege gibt es nicht. Halten Sie das trotzdem für plausibel?

Wenn man innerhalb von kurzer Zeit den Weg zum Abitur um ein Jahr verkürzt, die Schüler aber die gleichen Anforderungen bewältigen müssen, dann erzeugt das enormen Stress. Das ist eine gewaltige Druckwelle, auch für die Eltern. Diese Überforderung ist wissenschaftlich zwar schwer nachzuweisen, aber nach dem, was Eltern und Lehrer berichten, plausibel.

Es gibt mittlerweile viele Ansätze, das G 8 zu korrigieren: Stoff streichen, nachmittags mehr unterrichten, langsameren Schülern das G 9 anbieten. Was muss Ihrer Meinung nach geschehen?

Die Wahlmöglichkeit zwischen G 8 und G 9 für jedes Gymnasium ist rein pädagogisch gesehen ein sehr kluges Konzept. Aber jetzt haben wir gerade einmal den zweiten G-8-Jahrgang abgeschlossen. Vieles am G 8 wird sich in drei Jahren eingespielt haben, weil es Routine geworden ist und Fehler korrigiert wurden, da bin ich sicher. Jetzt noch einmal Änderungen einzuleiten, halte ich für sehr riskant. Das ist ein politisches Ablenkungsmanöver, das zu weiterer Unruhe beiträgt.

Sollte wenigstens der Lernstoff weiter reduziert werden?

Nein, der ist genug entschlackt. Nun geht es darum, die Zeit besser zu nutzen mit Schritten zu einer effektiven Ganztagsschule. Zudem muss es Wahlmöglichkeiten geben. Die Kultusminister sollten das G 8 neben dem G 9 weiter anbieten, aber an unterschiedlichen Schulen. Das Konzept, in 13 Jahren zum Abitur zu gelangen, wie etwa an den Sekundarschulen in Berlin, ist vielversprechend.

Das G 8 ging mit weniger Wahlmöglichkeiten einher. Sollten die Schüler sich selbst wieder mehr entlasten können, etwa, indem sie Mathematik ablegen?

Dies hat sich nicht bewährt. Die Länder verlangen zu Recht einen Kanon aus Deutsch, Mathematik, einer Fremdsprache und einer Naturwissenschaft. Ich hoffe, die Länder bleiben dabei, alles andere würde die Schullandschaft weiter zersplittern. Das sollten wir unbedingt vermeiden.

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