Bildungsdiskussion seit Pisa:Ruhe jetzt!

Aus der einst fruchtbaren Bildungsdiskussion ist ein hyperaktiver Kult um die Schule geworden. Politiker, Wirtschaftsvertreter und Helikopter-Eltern - sie alle meinen zu wissen, was das Beste ist für Schülerinnen und Schüler. Dabei lässt sich das mit einem Wort zusammenfassen: Ruhe.

Ein Kommentar von Johann Osel

Der traurige und fassungslose Bildungsblues, den Deutschland um die Jahrtausendwende angestimmt hat, ist einer hektischen Geschäftigkeit gewichen. Dass damals bei der ersten Pisa-Studie gut ein Viertel der Fünfzehnjährigen nur lesen und rechnen konnten wie Grundschüler, hat die Schulen ins Zentrum von Politik und Gesellschaft gerückt. Ach was, gerückt? Katapultiert!

Ein Schulminister, der in seiner Amtszeit nicht mindestens zwei Reformen auf den Weg bringt, steht heute schnell im Verdacht der Faulheit. Väter und Mütter, die nicht exakt wissen, wann welche Klassenarbeit ansteht und wie die Notenschnitte in früheren Klausuren lagen, gelten als Rabeneltern. Und wenn ein Bürger zur Schulpolitik nicht eine klare Meinung hat und die unter Schnappatmung vorträgt, wird ihm angelastet, dass ihm die Zukunft des Landes egal sei. Aus dem Blues vor zwölf Jahren ist ein vielstimmiges Geschrei geworden, gelegentlich hysterisch, in musikalischen Kategorien kaum zu fassen.

Besseren Unterricht kann ein Minister nicht einfach verordnen

Inzwischen hat sich Deutschland bei Pisa stark verbessert, die Jugendlichen sind laut der aktuellen Studie mit ihrem Wissen ein Jahr weiter, als ihre Altersgenossen es 2000 waren. Bei all den Defiziten, die es unbestritten noch gibt: Die Schulen wurden umgekrempelt, sie sind kaum mehr wiederzuerkennen - und das wäre ohne den Pisa-Weckruf von damals nie geschehen.

Der verstorbene FDP-Politiker Jürgen Möllemann hat der Kultusministerkonferenz mal das "Tempo einer griechischen Landschildkröte" attestiert. Zwar lähmen die Masse aus 16 Ländern und der obligatorische Parteienstreit die Runde nach wie vor; doch gleicht sie nun eher einer Katze, sie hält oft die Schnauze in den Wind, stürzt sich schnell auf Beute.

Dass fast alle Bundesländer zunächst die Hauptschulen abgeschafft und mit Realschulen verschmolzen haben, ist kaum verwunderlich. Strukturen lassen sich schnell verändern, besseren Unterricht kann ein Minister aber nicht so einfach verordnen. Doch auch das versucht man mittlerweile, vor allem stützt sich die Politik nun auf Zahlen und Studien, weniger auf Weltanschauungen und Bauchgefühl. Daraus entstanden ist ein Bündel an Neuerungen: Bildungsstandards für alle Länder, Schulentwicklungspläne, Lehrplanreformen, Integrations- und Förderziele, Unterrichtsmethoden für verschieden gute Schüler innerhalb einer Klasse. Ganztagsschulen und frühkindliche Bildung, einst Gift für Konservative, sind Konsens.

Dauerfeuer aus Ratschlägen und Reformen

Gymnasium in Niedersachsen

Schule sollte wieder den Schülern und Lehrern gehören.

(Foto: dpa)

Pisa zeigt jetzt, dass viele Rezepte offenbar richtig waren. Lehrer klagen aber darüber, dass sie die Einfälle der Ministerien und Bildungsforscher gar nicht mehr verstehen; dass Ideen wenig nützen, wenn Personal fehlt, oft Schulstunden ausfallen und Klassenräume sanierungsbedürftig sind; und dass sie sich vor allem eines wünschen: mehr Ruhe, mehr Vertrauen.

Denn zum politischen Dauerfeuer aus Ratschlägen und Reformen ist auch der Kult der Gesellschaft um die Schulpolitik gekommen. Der gängige Vorwurf an die Pisa-Autoren, sie mischten Erziehung und Effizienz in einen Topf, dient vielen deutschen Eltern längst als Leitbild. Es herrscht der Irrglaube, dass nur mit Abitur ein gutes Leben zu führen sei. Bürger in der breiten Mittelschicht sorgen sich, dass es die eigenen Kinder mal schlechter haben könnten.

Mit den Pisa-Studien hat so ein Wettrüsten der Elternhäuser begonnen. Man muss nur die Dramen beobachten, die sich beim Übergang aufs Gymnasium abspielen. Da wird mit Lehrern um Zehntelnoten gefeilscht, da werden Gutachter oder Anwälte beauftragt, die Nachhilfeindustrie floriert. Dass Kinder auf dem Weg zum Abitur dann oft einen komplett durchorganisierten Tag haben, liegt nicht nur am achtjährigen Gymnasium - es liegt auch am Ehrgeiz der Eltern. In vielen Familien ist die Schule alleiniger Taktgeber für das ganze Leben geworden.

Bitte mit mehr Gelassenheit

Am unteren sozialen Rand haben Mütter und Väter, deren Kinder ja nicht von Haus aus weniger begabt sind, nicht die intellektuellen und finanziellen Ressourcen, um sich in den Wettbewerb zu begeben. Oder sie wissen gar nichts von diesem Kampf.

Solange sozialer Status und Herkunft derart stark über den Schulerfolg entscheiden wie hierzulande, ist jede Bildungsdebatte erfreulich - aber bitte mit mehr Gelassenheit. Schulen sind für Revolutionen ungeeignet, die jüngsten Evolutionen sind teils nur auf dem Papier umgesetzt. Mehr Ruhe stünde aber nicht nur der Politik gut an; auch Wirtschaftsvertretern, die in diesen Tagen neidisch auf die asiatischen Gewinnerländer blicken und nach einem "Ruck" rufen. So wie vielen hyperaktiv gewordenen Eltern, es liegt ebenso an ihnen, dass die Schulen unter Starkstrom stehen.

Während einer Klausur hängt an Klassenzimmertüren gerne das Schild "Bitte nicht stören!". Man sollte es vielleicht einfach mal hängen lassen.

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