Süddeutsche Zeitung

Bildung und Wirtschaft:Schluss mit der Werbung an Schulen!

Unternehmen bieten Lernmaterial an und entsenden sogar Gastdozenten. Ziel: Werbung und wirtschaftsfreundliche Weltbilder bei Jugendlichen.

Gastbeitrag von Tim Engartner

Die Unterrichtsbroschüre trägt den Titel "Von der Kakaobohne zur Schokolade". Auf dem Einband prangt nicht nur derselbe Schrifttyp wie auf den Packungen eines namhaften Schokoladenherstellers. Auch inhaltlich liefert das Unternehmen ein Paradebeispiel für das verkannte Ausmaß von Schulmarketing. Die ideale Schulstunde beginnt laut mitgelieferter Anweisung mit einer Entspannungsübung, sie geht so:

Jedes Kind bekommt vom Lehrer ein Stück Schokolade. "Konzentriert euch nun ganz auf das Schoko-Stück. Jetzt geht es reihum und jeder darf sagen, was ihm zum Thema Schokolade einfällt. Wenn jeder einmal an der Reihe war, darf das Schoko-Stück aufgegessen werden." Im gesamten Heft wird Schokolade im Widerspruch zu ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen mit Glück und Gesundheit gleichgesetzt: Endorphine "wirken auf deinen Körper schmerzlindernd und entspannend und geben ein gutes Gefühl. Außerdem ist Schokolade einfach lecker und damit eine gute Belohnung". Unterrichtsmaterial? Nein, das ist eine Werbemappe.

Tim Engartner

... ist Professor für die Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt. Ein Schwerpunkt: Politische Bildung an Schulen. Seit Jahren analysiert er kritisch den Einfluss von Wirtschaft auf Unterricht.

Und es ist nur ein Beispiel von Tausenden. Um Schülern ein positives Bild ihrer Marke zu vermitteln, drängen immer mehr Unternehmen in den einstigen Schonraum Schule - um die Kunden von morgen möglichst früh an ihre Marke zu binden oder aber, um unternehmenskompatible Weltbilder heranzuzüchten. Sie sponsern Schulveranstaltungen, vertreiben Schulhefte mit Firmenlogos oder schicken gar Dozenten. Ein Massenphänomen, ein unterschätztes vor allem.

Allein 16 der 20 umsatzstärksten deutschen Unternehmen stellen Lernmittel zur Verfügung. Eine durch den Verband Bildungsmedien geförderte Studie der Universität Augsburg hat schon vor einigen Jahren Zuwachsraten von fast 70 Prozent binnen eines Jahres offenbart. Heute gibt es mehr (nicht von Behörden geprüfte) Materialien als je zuvor. Und weil in Zeiten klammer kommunaler Kassen die Schulbuch-Etats sinken, weil die Kopierkontingente gedeckelt und aktuelle Schulbücher seltener angeschafft werden, gelingt es Firmen breitenwirksam, die Schulen mit selektiven, tendenziösen und manipulativen Inhalten zu speisen. Lehrer laden diese herunter und bringen sie so in die Klassenzimmer - wobei Referendare, die während ihrer Ausbildung fachliche und pädagogische Orientierung suchen, besonders häufig auf gratis ausgegebene Bücher, Broschüren und Bildbände zurückgreifen.

Ein anderer Fall: Das von einem Autokonzern entwickelte Material "Arbeitstechnik in der Grundschule" entpuppt sich auf den ersten Blick als Reklame. So enthält das - in Kooperation mit einem Schulbuchverlag veröffentlichte - Material unzählige Abbildungen von Modellen eben des Autobauers. Diese sollen von Schülern dann unter anderem hinsichtlich der Größe des Koffer- und Fahrgastraums beschrieben werden. Ein Beitrag zur Allgemeinbildung lässt sich auch hier nicht erkennen.

Gleiches gilt für viele Unterrichtsmaterialien im Feld der ökonomischen Bildung. Während bis in die 1980er-Jahre hinein ein sozialwissenschaftlicher Zugang gewählt wurde, um die Arbeitswelt aus der Perspektive der Arbeitnehmerschaft zu beleuchten, sieht sich die Analyse, Deutung und Erkundung arbeitsweltlicher Phänomene seit einiger Zeit einer Vereinnahmung durch arbeitgeberorientierte Initiativen ausgesetzt. Mit dem Aufbau von Schülerfirmen erklären Initiativen das betriebswirtschaftliche Denken zum Dreh- und Angelpunkt von Lernprozessen. Projekte sollen "Unternehmergeist" wecken, und beteiligte Firmen bieten "praktische Unterstützung bei der Umsetzung" an - wobei viele der Anbieter die arbeitnehmerorientierte Deutung der Arbeitswelt desavouieren, obwohl neun von zehn Schülern später als abhängige Beschäftigte arbeiten werden.

Üblich auch: eine Art "Produktkunde", in der Wissen über Aktien und Anleihen, Devisen und Derivate zum Maßstab finanzieller Bildung erhoben wird. Darunter eine millionenschwere "Coaching"-Initiative. Die Liste der Kooperationspartner ist mit mehr als 60 Unternehmen und Organisationen ungewöhnlich lang: Versicherungen, Banken und Unternehmensberatungen reihen sich in das mit schon mehr als 2400 Schulen kooperierende Bündnis ein. Dabei muss man sich die Frage stellen, ob das Zeitkontingent Zwölfjähriger auf Fragen der Art "Wie sorge ich privat für das Alter vor?" oder "Wie betreibe ich bei meinen Finanzanlagen Risikodiversifikation?" verwandt werden sollte. Eine zu kritischem Bewusstsein erziehende finanzielle Bildung, die auch auf Risiken bei Geldanlagen verweist, findet über die ausgegebenen Materialien nicht statt. Wohl erst recht nicht, wenn "Finance Coaches" in Vertretung ihrer Firmen Unterricht erteilen.

Aber warum unterstützt zum Beispiel der Philologenverband diese Initiative? Müssten nicht gerade Lehrer sich die Frage stellen, warum Vermittler von Strukturvertrieben Schulen besuchen dürfen, um potenzielle Kunden zu werben, indem sie erst deren Ängste vor Altersarmut schüren und dann die private Altersvorsorge als Allheilmittel propagieren? Das ist beinahe so, als würden Fast-Food-Restaurantleiter die Kinder über Ernährung informieren. Wollen wir das?

Die teils auf Wochen angelegte Übernahme des Unterrichts durch Externe schadet nicht nur der Reputation des Lehrerberufs, sondern lässt zugleich eine Schieflage zu Lasten solcher Interessengruppen entstehen, die nicht über Ressourcen für schulische Lobbyarbeit verfügen, wie Gewerkschaften, wie Wohlfahrts- oder Umweltverbände.

Während Schleichwerbung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nur ausgestrahlt werden darf, wenn ausdrücklich darauf hingewiesen wird, stehen in der Schule Mitarbeiter von Banken und Versicherungen vor der Klasse, ohne dass Schüler deren Absichten durchblicken können. Während Schulbücher in fast allen Bundesländern von Ministerien genehmigt werden müssen, gelangen Arbeitsblätter von Unternehmen ungeprüft in die Klassen.

Eigentlich ist Werbung an Schulen verboten

Ausschlaggebend für den Boom von Werbeinitiativen sind, neben einer Unbedarftheit vieler Lehrer, laxe Gesetze: Eigentlich ist Werbung an den Schulen in den meisten Ländern verboten. Gleichwohl gibt es Interpretationsspielräume - dass zum Beispiel die Schulleitung mit Zustimmung der Schulkonferenz und des Schulträgers darüber befinden kann, wann Werbung mit dem Bildungsauftrag "vereinbar" ist.

Letztlich hat die Öffnung gegenüber unternehmerischen Einflüssen zu einer tektonischen Verschiebung bei den Akteuren im Schulsystem geführt: Gewinn- und Gemeinwohlorientierung prallen aufeinander. Da Kinder und Jugendliche im Umgang mit Meinungen als vergleichsweise unerfahren gelten, müssen die ihnen vorgetragenen Standpunkte behutsam ausgewählt und - mindestens ebenso bedeutsam - hinsichtlich ihrer Stoßrichtung austariert werden. Weder können sich die Umworbenen den unterrichtlich eingebetteten "Werbeveranstaltungen" entziehen noch wissen sie den vermittelten Eindruck von Seriosität und Neutralität der externen Expertenschaft immer zu enttarnen.

Auch wenn Theorie-Praxis-Kooperationen zum Beispiel an Hauptschulen zu begrüßen sind, bedarf es angesichts der inhaltlichen Einflussnahme durch Privatakteure eines eindeutigen staatlichen Regelwerks, das die Trennung zwischen Schule und Privatwirtschaft garantiert. Denn während die Semantik des Begriffs "Bildungspartnerschaft" eine Begegnung auf Augenhöhe suggeriert, reicht diese in der Realität häufig längst über eine gleichberechtigte Kooperation hinaus.

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Quelle:
SZ vom 18.04.2016/mkoh
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