Stuttgart (dpa/lsw) - Grundschulkinder in Baden-Württemberg sollen ein gezieltes Lesetraining bekommen. Zum nächsten Schuljahr werden Leseförderkonzepte an den Grundschulen verpflichtend, teilte das Kultusministerium am Freitag in Stuttgart mit. Mit dem Programm werde eine der wichtigsten Kernkompetenzen überhaupt gestärkt, sagte Ressortchefin Theresa Schopper (Grüne).
Unter anderem sollen die Schülerinnen und Schüler zwei Mal in der Woche im Unterricht laut vorlesen. Das kommt Schopper zufolge insbesondere denjenigen zugute, bei denen zu Hause nicht regelmäßig Deutsch gesprochen werde oder für die Lesen im Elternhaus nicht selbstverständlich gewesen sei - und die sich deshalb naturgemäß in den ersten Schuljahren damit schwerer täten.
Mit dem Vorstoß reagiert die Ministerin auf die schlechten Ergebnisse bei der IQB-Bildungsstudie. Bei der bundesweiten Erhebung hatten Schülerinnen und Schüler im Südwesten im vergangenen Jahr beim Thema Lesen enttäuschend abgeschnitten. Fast jedes fünfte Kind (19,1 Prozent) erreichte in dem Bereich nicht den Mindeststandard.
Nun muss im Schuljahr 2023/2024 jede öffentliche Grundschule in Baden-Württemberg nachweisen, dass sie ein Leseförderkonzept hat. Das Ministerium hat auch schon einen Vorschlag für die Förderstrategien parat: „BiSS-Transfer“ („BiSS“ für Bildung in Sprache und Schrift).
Dieses Konzept hatte das Bundesbildungsministerium mit den Ländern anhand von wissenschaftlichen Studien entwickelt. 402 Grundschulen in Baden-Württemberg setzen es schon um. Die Standards des „BiSS-Transfers“ sollen jetzt möglichst an allen knapp 2400 öffentlichen Grundschulen eingeführt werden.
Das Programm setzt beispielsweise auf „Laut-Lese-Tandems“, bei denen sich die Kinder gegenseitig unterstützen. Lesestarke Schülerinnen und Schüler tun sich dabei zu zweit mit leseschwächeren zusammen, damit diese flüssiger lesen, wie das Kultusministerium weiter mitteilte. Außerdem helfe Kindern das Vorlesen zu festen Zeiten im Stundenplan.
Unterstützt werden die Schulen der Mitteilung zufolge von sechs „BiSS“-Regionalkoordinatorinnen sowie von etwa 50 „BiSS“-Sprachbildnerinnen und -Sprachbildnern. Außerdem werde es im kommenden Schuljahr rund 90 Fortbildungsveranstaltungen dazu geben, wie man flüssiges Lesen und Leseverstehen fördern kann.
Verbände, Landeselternbeirat und Opposition kritisierten, dass die Idee nicht viel ändere und vor allem nicht die Probleme wie Lehrkräftemangel und zu große Klassen löse. Oliver Hintzen vom Verband Bildung und Erziehung merkte an, dass alle Grundschulen Leseförderstrategien hätten - wenn auch mal mehr, mal weniger intensiv. „Daher ist das überhaupt keine so neue und bahnbrechende Idee“, teilte er mit.
„Nett gemeint und gleichzeitig hilflos“, nannte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) das geplante Programm. „Die wirklichen Probleme in den Grundschulen werden nicht angepackt“, bemängelte die GEW-Landesvorsitzende Monika Stein. Um Grundschulen zu stärken, pochte sie auf einen schnelleren Ausbau der Studienplätze, einen Stopp der Abwanderung von Lehrkräften durch bessere Bezahlung und mehr Leitungszeit für die Schulleitungen.
Die SPD-Landtagsfraktion betonte, verbindliche tägliche Vorlesezeiten an den Grundschulen schon vor einigen Monaten gefordert zu haben. „Verpflichtende Nachhilfe und vorschulische Sprachtests sind weitere Instrumente, die es jetzt dringend braucht“, teilte die schulpolitische Sprecherin Katrin Steinhülb-Joos mit.
Für die FDP-Fraktion sind genug Grundschullehrkräfte das zentrale Element. „Nur dann werden Maßnahmen zur Verbesserung - nicht nur - der Lesekompetenz ihre volle Wirkung entfalten können“, sagte der bildungspolitische Sprecher Timm Kern. Rainer Balzer von der AfD-Fraktion plädierte für bessere Rahmenbedingungen wie keine unterrichtsfernen Aufgaben für Lehrkräfte, homogene und kleine Klassen.
Die Sprecherin für Grundschulen der Grünen-Landtagsfraktion, Nadyne Saint-Cast, verteidigte das Programm als „eines von vielen Puzzleteilen“, die im Gesamtbild die Grundschulen qualitativ und quantitativ verbesserten.
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