Süddeutsche Zeitung

Schule:Warum in Deutschland so viele Lehrer fehlen

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Sechs Jahre nach der Geburt werden Kinder eingeschult. Eigentlich ausreichend Zeit, um für genügend Lehrer zu sorgen. Oder?

Von Paul Munzinger, München

Kommt ein Kind im Jahr 2012 auf die Welt, dann wird es in der Regel sechs Jahre später eingeschult. Also jetzt. Ist ein Lehrer 2012 jenseits der 60, wird er sechs Jahre später eher nicht mehr unterrichten. Also jetzt. Kann es da so schwer sein, im Voraus zu berechnen, wie viele Lehrer die Schulen brauchen? Müsste es da nicht möglich sein, eine Lage zu vermeiden, wie sie heute vielerorts herrscht?

40 000 Lehrer, so hat der Deutsche Lehrerverband jüngst erklärt, fehlten in diesem Schuljahr. 30 000 Stellen könnten nur notdürftig mit Bewerbern besetzt werden, die keine pädagogische Ausbildung haben. 10 000 Stellen blieben unbesetzt. Die Frage, die gerade immer lauter diskutiert wird: Wie konnte es so weit kommen?

Überraschend deutlich haben nun zwei sehr unterschiedliche Politiker den für die Schulen verantwortlichen Ländern vorgeworfen, den Mangel an Lehrern durch einen Mangel an Planung verschuldet zu haben. Volker Kauder, Unionsfraktionschef im Bundestag, warnte unlängst vor einem "Bildungsnotstand". Er wundere sich, warum trotz steigender Geburtenzahlen nicht schnell genug reagiert worden sei. Zuvor hatte Helmut Holter, als Bildungsminister in Thüringen und Vorsitzender der Kultusministerkonferenz (KMK) für Bildungsfragen tatsächlich zuständig, eingeräumt, dass "keine vorausschauende Politik" gemacht worden sei. Um wenig später klarzustellen, dass es nicht am Willen der Kultusminister mangele, Lehrer einzustellen; das Problem sei vielmehr "das Mantra des Personalabbaus im öffentlichen Dienst".

Vorausschauen, heute die Zahl der Lehrer berechnen, die morgen gebraucht werden: Kann das so schwer sein? Die Frage ist Klaus Klemm zuletzt oft gestellt worden. Und der emeritierte Bildungsforscher von der Uni Duisburg-Essen antwortete: Ja, es ist schwer. Aber das bedeute nicht, dass die Länder keine Fehler gemacht hätten. 1976 hat Klemm ein Buch veröffentlicht, dessen Titel heute verrückt klingt: "Volle Klassen, Lehrerschwemme". Mitte der 60er-Jahre waren die Geburtenzahlen in Westdeutschland eingebrochen, von 1,3 Millionen auf 800 000 zehn Jahre später. Die Folge des "Pillenknicks": Ein Überangebot an Lehrern. Die Länder seien die in den Baby-Boom-Jahren verbeamteten Pädagogen nicht mehr losgeworden - für Finanzminister bis heute ein warnendes Beispiel.

Für Klemm ist es vor allem Beleg dafür, dass die schwerfällige Bedarfsplanung für Schulen einfach nicht hinterherkomme, wenn es abrupte demografische Veränderungen gibt. Nächstes Beispiel: die ehemalige DDR unmittelbar nach der Wende. Kamen dort 1989 noch 200 000 Kinder zur Welt, waren es vier Jahre später 80 000. Wieder gab es zu viele Lehrer, über Jahre wurde kaum eingestellt und kaum ausgebildet. Die Auswirkungen sind bis heute spürbar, der Lehrermangel trifft die ostdeutschen Bundesländer besonders hart.

Nun gebe es wieder eine solche Wende, sagt Klemm: Nach Jahren des Rückgangs kommen seit 2012 wieder mehr Kinder zur Welt. Doch dass der Zuwachs sich verstetigen würde, sei damals nicht abzusehen gewesen. Für einen Trend brauche es drei Pfeile, die in die gleiche Richtung weisen - 2012, 2013 und 2014 also. Die Zahlen für 2014 lagen aber erst 2015 vor. Dazu kam noch die Ankunft Tausender Flüchtlingskinder sowie der starke Zuzug, besonders aus Osteuropa. Aber selbst wenn die Länder sofort reagiert hätten, wäre es aus heutiger Sicht zu spät gewesen. Bis neue Lehrer vor der Klasse stehen, vergehen mindestens sechs Jahre.

Bis Mitte der 20er-Jahre könnte der Lehrermangel zunehmen

Nur höhere Gewalt also? Nein, sagt Klemm. Die meisten Länder hätten viel zu träge reagiert, als der Trend bereits erkennbar war. Die offizielle KMK-Statistik etwa ging noch bis vor wenigen Monaten von sinkenden Schülerzahlen aus. Zweitens hätten viele Länder die Zeit der rückläufigen Schülerzahlen nicht genutzt, um einen Puffer an Lehrern anzulegen, um bei unerwarteten Veränderungen Entlastung zu bieten. Stattdessen sei die Versorgung "unter dem Diktat der Schuldenbremse auf Kante genäht" worden. Drittens unterscheide sich die aktuelle Trendwende von ihren Vorläufern in einem wichtigen Punkt: Sie sei eben nicht Folge höherer Gewalt, sondern von der Politik gewollt und etwa mit dem Ausbau der Ganztagsschule oder der Elternzeit gezielt gefördert worden. Diese Maßnahmen hätten gefruchtet - und jetzt gebe es für die Kinder keine Lehrer.

Bis Mitte der 20er-Jahre, prophezeit Klemm, wird der Lehrermangel zunehmen. Notmaßnahmen wie die Einstellung von Seiteneinsteigern seien unvermeidbar. Klemm hat deshalb vor allem eine Hoffnung: dass die Länder aus ihren Fehlern lernen - und vorsorgen, damit der aktuelle Lehrermangel an den Grundschulen sich nicht in einigen Jahren an den weiterführenden Schulen wiederholt.

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SZ vom 31.08.2018
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