Bildung im Ausland:Statussymbol Frühstück

Ein Deutscher in Warschau, ein Spanier in Paris, ein Franzose in Berlin: Wenn Korrespondeten ihre Kinder in fremden Ländern zur Schule schicken, sind Verwirrungen an der Tagesordnung. Im besten Fall lernen auch die Eltern ein bisschen dazu.

Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik werden die Zukunft Europas entscheiden. Was treibt Spaniens protestierende Jugend an? Wie können Bildungssysteme voneinander lernen? Was wird aus dem Bologna-Prozess? Die Süddeutsche Zeitung widmet diesen Fragen ein Dossier, das in Zusammenarbeit mit El País, The Guardian, Gazeta Wyborcza, La Stampa und Le Monde entstanden ist. Das Dossier finden Sie auf dieser Seite.

Flaggen Karriere

"Abgesehen von der Betonung sozialer Fähigkeiten war die Grundschulerziehung aber ein Anlass für ständige Sorge über eine derart anspruchslose Ausbildung."

(Foto: Süddeutsche.de)

Von Giles Tremlett, The Guardian

Als mein Vierjähriger in den Bus kletterte, um zu einem dreitägigen Schulausflug zu starten, und der Rektor meine Bedenken wegen nichtvorhandener Sicherheitsgurte lachend beiseite schob, wurde mir schlagartig klar, dass die Erziehung meines Sohnes sich von meiner ziemlich stark unterscheiden würde.

Mathe, Lesen, sich kleiden wie Cervantes, mit Scheren hantieren - so sollte ein Teil der frühen Schulausbildung meiner Kinder in Madrid aussehen. Aber das oberste Ziel war, sie zu sozialen Wesen zu erziehen. Sie mussten lernen, wie man ein glückliches Mitglied großer Gruppen wird, immer lässig inmitten einer Ansammlung manchmal sehr lauter Menschen. Einsames Lesen auf dem Spielplatz wurde mit Stirnrunzeln quittiert. Es ging stets darum, wie man eine Gruppe formt. "Denkt nur - sie werden alle noch Freunde sein, wenn sie mal so alt sind wie wir", seufzte eine Mutter, als wir dem Bus nachwinkten. Ich kicherte zynisch.

In meiner britischen Vorstellung von einer Schullaufbahn war die Grundschule nur der erste Meter in einem Wettlauf um individuelle Brillanz. Für mich waren die Kinder alle künftige Gehirnchirurgen, Olympiaathleten, Konzertpianisten, erstklassige Dramaturgen. Sicher würden wir alle schon weitergezogen sein, wenn unsere Kinder erwachsen würden, sie hätten mehrmals die Schule gewechselt, immer auf der Jagd nach dem Traum von ihrer (und unserer) individuellen Größe.

Treue Freunde gefunden

Bislang jedoch hat die spanische Mutter recht behalten. Mein Sohn hat zwar die Schule gewechselt, aber als 16-Jähriger eine Nachwuchs-Fußballmannschaft mit vier anderen aus dem Bus gegründet. Manche der damals Vierjährigen beenden ihre Abende heute regelmäßig auf unseren Gästebetten, obwohl ihre überdimensionierten haarigen Arme und Beine kaum hineinpassen. Wenn es das Ziel war, aus ihnen treue Freunde zu machen, so ist es erreicht.

Abgesehen von der Betonung sozialer Fähigkeiten war die Grundschulerziehung aber ein Anlass für ständige Sorge über eine derart anspruchslose Ausbildung. Die Messlatte schien niedrig zu hängen, Ziele wirkten diffus. Druck gab es kaum, ebenso wenig wie die Förderung individueller Talente.

Dann kamen sie in die weiterführende Schule. Plötzlich war alles anders. Die Anforderungen waren extrem hoch. Der Stundenplan schrieb Unterricht von 8 bis 14 Uhr vor, danach standen ein oder zwei Stunden selbständigen Lernens auf dem Programm. Bringen sie das mal einem 14-Jährigen bei! Das Niveau in Mathe und den Naturwissenschaften war ziemlich hoch. Aber fast der gesamte Rest bestand nur aus Auswendiglernen: Dutzende spanische Flüsse und Gebirgszüge, alle Hauptstädte Europas und der größte Teil des Periodensystems.

Keine externe Beurteilung

In der Literaturklasse mussten Sätze bis in die winzigsten grammatikalischen Bestandteile seziert werden. Die Hürde war hoch, und viele scheinen an ihr zu scheitern. Die Rate derer, die vor der Zwischenprüfung ESO, die man mit 16 ablegt, aussteigen, ist alarmierend hoch - sie liegt bei etwa 30 Prozent.

Das vielleicht bedenklichste ist das Fehlen externer Beurteilung im letzten Schuljahr, das meine Söhne gerade begonnen haben. Sowohl die ESO-Prüfung als auch das Abitur (bachillerato) werden von den Klassenlehrern selbst abgenommen. Die Lehrer sind im öffentlichen Schulsystem unkündbar. Manche entwickeln eine grimmige Freude daran, Schüler durchfallen zu lassen.

Es gibt eine urbane Legende an unserer Schule, wonach ein Lehrer von 18-Jährigen eine Metrotreppe hinabgestoßen wurde, weil er eine Abschlussklasse durchfallen ließ, sodass keiner das Uni-Zugangsexamen machen konnte. Nach all den Stunden, die ich meine Kinder über Gebirgszüge, Flüsse und das Periodensystem abgehört habe, weiß ich, wie sie sich fühlten.

"Monsieur Fillon schaffte es"

Von Antonio Jiménez, El Pais

Flaggen Karriere

"Monsieur Fillon widmete sich der Aufgabe, in einer speziellen Klasse die Kinder von Einwanderern zu betreuen, die an die Schule kamen, ohne ausreichend Französisch zu sprechen, um in eine normale Klasse gehen zu können."

(Foto: Süddeutsche.de)

Eine Schule wird von ihren Lehrern gemacht. Deshalb will ich von Monsieur Fillon erzählen. Er trägt denselben Nachnamen wie der Premierminister des früheren Präsidenten Sarkozy, das ist aber auch die einzige Gemeinsamkeit. Monsieur Fillon widmete sich der Aufgabe, in einer speziellen Klasse die Kinder von Einwanderern zu betreuen, die an die Schule kamen, ohne ausreichend Französisch zu sprechen, um in eine normale Klasse gehen zu können. Ich kann mir keine nützlichere und würdigere Arbeit vorstellen.

Es saßen in dieser Klasse Uruguayer, Argentinier, Senegalesen, Marokkaner, Vietnamesen, Nordamerikaner und eine Spanierin - meine Tochter. Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat. Es war eine Mischung aus Geschicklichkeit, Sanftmut, Überzeugungskraft, Weisheit und dieses gewisse Etwas, das gute Lehrer auszeichnet. Monsieur Fillon schaffte es, dass meine Tochter, die verschüchtert angekommen war in einem unbekannten Land, ohne ein Wort Französisch zu sprechen, sich Tag für Tag an das fremde Bildungssystem gewöhnte. Im folgenden Jahr besuchte sie eine normale Klasse.

Schulen werden auch von Direktoren gemacht. Während der drei Jahre in Frankreich nahm ich jeden Tag aufs Neue erstaunt zur Kenntnis, dass die Leiterinnen der zwei Schulen, die meine Kinder besuchten, die Schüler am Tor begrüßten und sie nach dem Unterricht auch verabschiedeten.

Es gibt natürlich noch mehr Sachen: die Trennung von Kirche und Staat in der Schule. Bücher, sogar Hefte sind umsonst. Freude am Lesen wird gezielt angeregt. Das Modell ist jedoch in Gefahr geraten durch die Krise und die Einsparungen der Regierung Sarkozy. Meine Kinder jedenfalls werden das, was sie in öffentlichen französischen Schulen erlebt und gelernt haben, nie wieder vergessen. Und ich auch nicht.

"Du fällst in Ohnmacht"

Flaggen Karriere

"Unser größtes Problem war, die Kinder an einer Schule anzumelden. An diesem Punkt habe ich gemerkt, dass England, immerhin die älteste Demokratie des Planeten, ein ziemlich unzivilisiertes Schulsystem hat, voller Klassenschranken wie kein anderes."

(Foto: Süddeutsche.de)

Von Andrea Malaguti, La Stampa

Caterina Soffici ist Journalistin und Schriftstellerin. Sie lebt im Süden Londons nahe Hammersmith, wohin sie 2010 zog. Ihr Mann arbeitet in der City. Die Kinder, Jacopo und Lorenzo, waren zuvor in Mailand in die Grundschule gegangen.

Sie erzählt: "Unser größtes Problem war, die Kinder an einer Schule anzumelden. An diesem Punkt habe ich gemerkt, dass England, immerhin die älteste Demokratie des Planeten, ein ziemlich unzivilisiertes Schulsystem hat, voller Klassenschranken wie kein anderes. Um einen Platz für Jacopo und Lorenzo zu finden, habe ich mich an die Stadtverwaltung gewandt und Freunde gefragt. Die sagten: 'Du kannst es in einer öffentlichen Schule versuchen, aber das ist fast aussichtslos.' Ich habe es trotzdem versucht.

Ich bekam einen tollen Brief mit dem Angebot, meine Kinder an zwei Schulen anzumelden, die anderthalb Stunden von zu Hause entfernt lagen. Im Stadtzentrum war alles seit Jahren voll und ausgebucht. Manche Eltern reservieren schon bei der Geburt einen Platz für ihr Kind an der Schule. Für uns blieb nur die Vorstadt - Viertel, die für einen italienischen Jungen nicht die einladendsten sind. Ich habe Statistiken gesehen, wonach manche Kinder in diesen Gegenden die Grundschule verlassen, ohne lesen zu können.

Notlösung: Internationale Schule

Daraufhin habe ich es bei den katholischen Schulen probiert. In London sind katholische Schulen öffentlich. Aber um ein Kind dort anzumelden, musst du verheiratet, getauft und gefirmt sein und womöglich noch das Empfehlungsschreiben eines Priesters vorzeigen. Wir wurden abgelehnt, weil wir unsere Kinder nicht in der ersten Lebenswoche getauft hatten.

Also blieben nur noch die Privatschulen übrig. Es gab Internatsschulen, Oasen mit Cricketplätzen, Fußball, Tennis und ein Harry-Potter-würdiges Unterrichtsangebot für 40.000 Pfund. Du fällst in Ohnmacht. Wenn du in diese Schulen hineinkommst, hast du danach Zutritt zu den besten Universitäten. Wenn nicht, vergiss es. Die Auswahlkriterien für die Zulassung sind gnadenlos. Und es gibt so gut wie keine soziale Durchlässigkeit. Wieder nichts zu machen.

Es blieb uns am Ende nur die internationale Schule. Dort standen uns alle Türen offen. Das Unterrichtsniveau ist gut. Die Kinder sind glücklich. Dort lernen sie zu denken, und sie ersticken nicht in Wissensballast. Sie geben dir dort Möglichkeiten. In England ist Bildung ein Privileg weniger, kein Recht für alle. Es ist sicher kein Zufall, dass 42 Premierminister Absolventen der Eliteschule von Eton waren.

"Bloß kein Hörnchen"

Flaggen Karriere

"Eine respektable Familie wählt nur Bio- und Qualitätsprodukte. Der Inhalt der Brotbox ist ein echter sozialer Marker."

(Foto: Süddeutsche.de)

Von Frédéric Lemaître, Le Monde

Sein Kind in einer Grundschule in Berlin anzumelden ist nicht leicht. Zunächst stellt sich die Frage: welche Schule? Die öffentliche Schule im Viertel? Die gibt es nicht wirklich. Die Grundschulen sind groß, mit etwa 500 Kindern, und deshalb weniger zahlreich.

Vor allem haben die Eltern die Wahl zwischen einer öffentlichen Schule und einer ganzen Reihe anderer Institutionen: die von den Möchtegern-Bohemien-Familien sehr geschätzten Waldorfschulen (die den Prinzipien Rudolf Steiners folgen), die europäischen Schulen, die sogenannten freien Schulen, die laizistisch sind, wo aber die Kinder aus französischer Sicht über eine extravagante Freiheit verfügen, oder aber die konfessionellen Schulen, hinter denen sich manchmal eine Montessori-Pädagogik versteckt.

Ist die Schule gewählt, bleibt das Kind im Prinzip die gesamte Grundschulzeit mit seinen Freunden zusammen. Sie zu trennen würde fast als eine Art Misshandlung angesehen. Dafür müssen die Eltern in Berlin entscheiden, ob ihr Kind am Ende des vierten Schuljahres aufs Gymnasium wechselt oder ob es zwei Jahre länger bleibt, bevor es in die Sekundarschule einsteigt - eine fürchterliche Entscheidung und vom dritten Schuljahr an ein Diskussionsthema im Kreise der Familien und mit den Lehrern.

Das Frühstück als Statussymbol

Noch eine Entscheidung: Das Kind kann entweder nur von 8 Uhr bis 13.25 Uhr in die Schule gehen oder bis 16 oder 18 Uhr in der Nachmittagsbetreuung bleiben. Die Woche ist lang, Kantinen sind rar. Oft ist es Aufgabe der Familien, eine "Brotbox" mitzubringen. Aber Vorsicht: sich mit einem Schokoladenhörnchen zu begnügen, wie es die Franzosen gelegentlich tun, wird nicht gerne gesehen. Eine respektable Familie wählt nur Bio- und Qualitätsprodukte. Der Inhalt der Brotbox ist ein echter sozialer Marker.

Das Kind muss auch lernen, sich zu organisieren. Von Anfang an muss es seine abendlichen Hausaufgaben verwalten, jeden Tag. Wenn das Kind in der Krippe war, ist es privilegiert: vom Alter von zwei Jahren an treffen sich die Kinder dort am Montagmorgen, um über einen Teil ihrer wöchentlichen Aktivitäten zu beraten. In der Schule haben sie viel Freizeit. Die französischen Eltern erfahren mit Schrecken, dass ihr Kind einen Teil seines Vormittags damit verbringen konnte, sich zwischen Stiefeln und durchnässten Mänteln im Flur niederzulassen, um zu malen.

Und, besonders weil Berlin arm ist, passiert es nicht selten, dass sie "eingeladen" werden, zur Instandhaltung der Schule beizutragen. Die Mütter entrümpeln Stühle und Tische. Und die Väter können am Wochenende streichen.

"Zu lange Ferien"

Flaggen Karriere

"Der Unterricht in der Grundschule besteht vor allem aus Schreiben, Lesen, Rechnen. Mein Mann, der Italiener ist, meint, das Niveau sinke seit Jahren."

(Foto: Süddeutsche.de)

Von M. Kolisska-Dabrowska, Gazeta Wyborcza

Die gebürtige Polin Ewa Giacomelli lebt seit 16 Jahren in Italien. Ihre drei Kinder besuchen eine öffentliche Schule nördlich von Mailand. Die neunjährige Tochter geht in die vierte Klasse, die ältere Tochter und der Sohn sind bereits auf dem Gymnasium.

Über ihre Erfahrung mit der italienischen Schule erzählt Giacomelli: "Die größte Überraschung für uns war die Länge der Schulstunde: Sie dauert genau eine Stunde, in Polen sind es dagegen 45 Minuten. Und die Länge der Sommerferien: drei Monate. Dafür endet der Unterricht erst um 16 Uhr. Die Älteren haben sogar am Samstag Unterricht.

Der zweite Unterschied liegt im Fach Sport: In Polen wird darum gekämpft, dass die Kinder sich möglichst viel bewegen, sie haben vier Stunden pro Woche. Hier in Italien finden die Sportstunden äußerst unregelmäßig statt, manchmal ist dafür überhaupt kein Geld im Schulhaushalt ausgewiesen. Es gibt auch keinen Technik-Unterricht. Dafür führt die Schule ,alternative Wochen' durch, in denen Technik, Sport und Kulturwissenschaften konzentriert sind.

Das Niveau sinkt seit Jahren

Der Unterricht in der Grundschule besteht vor allem aus Schreiben, Lesen, Rechnen. Mein Mann, der Italiener ist, meint, das Niveau sinke seit Jahren. Der Stoff, den früher die vierte Klasse in Mathematik habe durchnehmen müssen, sei mit dem Programm der heutigen Mittelstufe zu vergleichen. Manche Schüler haben das Glück, dass sie auf Lehrer treffen, die es schaffen, ihren Ehrgeiz und ihre Neugierde zu wecken.

Die Gymnasien verlangen keine Aufnahmeprüfung. Die Eltern melden ihre Kinder an der Schule an, die ihnen gefällt. Wenn sich eine sehr große Zahl neuer Schüler angemeldet hat, wird einfach eine neue Klasse aufgemacht. Doch gibt es ein Examen zum Abschluss der dreijährigen Mittelstufe. Geprüft wird aber nicht der gesamte Lehrstoff, sondern nur der des letzten Schuljahres.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Kinder in der italienischen Schule ihre Zeit verplempern. Sehr oft schauen sie im Unterricht Filme an, nur um die Zeit herumzubringen, weil beispielsweise ein Lehrer krank geworden ist. Und es gibt viel zu viel Hausaufgaben. Ich sehe mir die Schulhefte meiner Kinder an und denke, die meisten Hausaufgaben sind nicht sinnvoll und tragen nichts zu ihrer geistigen Entwicklung bei.

Und es gibt noch einen Unterschied. Hier bekommen die Kinder Aufgaben für die Ferienzeit. Das liegt auf der Hand, denn wenn die Ferien so lang sind, muss in der Tat etwas getan werden, damit sie das bereits Erlernte nicht vergessen."

"Die Schüler sind eingebunden"

Flaggen Karriere

"Obwohl er gute Noten hatte, sagte unser Sohn, als er 15 Jahre alt war, dass er von der deutschen auf eine polnische Schule wechseln wolle."

(Foto: Süddeutsche.de)

Von Thomas Urban, SZ

Meine Frau ist Polin, mein Sohn ist Warschauer, er wurde 1991 in der polnischen Hauptstadt geboren. Als er sechs Jahre alt war, haben wir lange überlegt, ob wir ihn bei einer polnischen oder der deutschen Schule in Warschau anmelden. Wir haben uns für die deutsche Schule entschieden, aus zwei Gründen: Zum einen war ja seine gesamte Umgebung polnischsprachig, die Nachbarn, die Verwandten meiner Frau. Zum anderen hatten wir aus der Familie meiner Frau auch so manche Dinge über die heutigen polnischen Schulen gehört, die uns ein wenig abschreckten: Die Kinder müssten sehr viel Faktenwissen anhäufen, würden aber kaum lernen, sich selbständig Wissen anzueignen. Die Neugierde der Kinder, Dinge für sich selbst zu entdecken, würde wenig gefördert.

In der Tat wusste ich ja durch die alljährlichen Zeitungsberichte über die Abiturprüfungen, dass diese Klagen nicht unbegründet sind. Denn es heißt immer wieder, das Programm verlange vor allem ein gutes Kurzzeitgedächtnis, sei aber weit davon entfernt, die Schüler auf den Universitätsbetrieb oder gar auf das "echte Leben" vorzubereiten. Obwohl er gute Noten hatte, sagte unser Sohn, als er 15 Jahre alt war, dass er von der deutschen auf eine polnische Schule wechseln wolle.

Dies hatte durchaus damit zu tun, dass viele Schüler, die eine ausländische Schule besuchen, in einer Art geistigem Ghetto leben, und dass die meisten außerdem nur drei, vier Jahre da sind. Dauerhafte Freundschaften entstehen auf diese Weise kaum. Vor allem erklärte mein Sohn, er habe im Gespräch mit seinen polnischen Alterskameraden immer mehr bemerkt, wie ihm bei vielen Dingen das Fachvokabular fehle, das er nur auf Deutsch kenne.

Wunschschule: Mitmach-Gymnasium

Unser Sohn wusste auch genau, wohin er wollte: auf das Gymnasium auf der Raszynska-Straße. Dort findet der Unterricht in einem Teil der Fächer auf Englisch statt, vor allem aber ist es eine "demokratische Schule", was in Polen durchaus selten ist. Es gibt ein Schülerparlament, die Schüler sind also in viele Entscheidungen, die die Gemeinschaft betreffen, eingebunden. Es wird geradezu erwartet, dass sie sich engagieren.

Mein Sohn musste eine Aufnahmeprüfung machen, da die Plätze sehr begehrt sind. Dabei haben sich die Lehrer weniger für seine Noten interessiert. Vielmehr wollten sie wissen, ob der Bewerber für die Schule auch zu ihnen passt. Sie wollten sich also ein Bild machen, ob er sich in der Gemeinschaft engagiert, ob er Phantasie hat, ob er selbständig Schulprojekte realisieren kann. Auch die Eltern sind einbezogen. So habe ich als deutscher Vater an manchen Projekten teilgenommen und natürlich auch bei den Elternsprechtagen manches Kritische über die Lernerfolge oder die Lernbereitschaft meines Filius hören müssen.

Doch war die Entscheidung für uns alle richtig: Die polnische Schule war nicht nur für meinen Sohn eine sehr gute Erfahrung, sondern auch für mich. Ich habe dort über das Land viel mehr gelernt als in unzähligen Pressekonferenzen oder Hintergrundgesprächen mit Politikern.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: