Süddeutsche Zeitung

Bildung auf Kuba:Die Revolution frisst ihre Lehrer

  • Die kubansiche Regierung brüstet sich seit Jahrzehnten mit dem kolossalen Bildungssystem des Landes.
  • Dabei werden Lehrer sehr schlecht bezahlt, viele von ihnen müssen Zeitjobs annehmen oder in die Tourismusbranche wechseln, um ihr Leben finanzieren zu können.
  • Derzeit sind etwa 12 000 Lehrerstellen unbesetzt, auch an den Universitäten kommen kaum Lehramtsstudenten nach.

Von Benedikt Peters

An einem lauen Frühjahrsabend steht ein übermüdeter Lehrer vor einer Kneipe in Havanna und versucht händeringend, Geld zu verdienen. Die Kneipentür öffnet sich, ein dicker Tourist aus Kanada wankt heraus. "Hey my friend, you wanna go for a ride?" fragt der Lehrer mit einem Lächeln und deutet auf sein Rikschataxi. "Come on, it's cheap!" Doch der Tourist stapft einfach an ihm vorbei.

Geht es nach der kubanischen Regierung, dann sollte der Englischlehrer Ricardo Prieto nicht vor dieser Kneipe stehen. Schließlich gelten Pädagogen in Kuba als Helden, nicht als Tagelöhner. Sie seien "die Hauptakteure des kolossalen Bildungssystems, das unser Land einzigartig macht", schrieb Bildungsministerin Ena Elsa Velázquez unlängst. Die kommunistische Parteizeitung Granma verbreitete ihren Brief im ganzen Inselstaat.

Schulen und Universitäten sind kostenlos

Die Erzählung vom kolossalen Bildungssystem speist sich aus den Tagen der kubanischen Revolution. Nachdem Fidel Castro 1959 die Macht übernommen hatte, ließ er medienwirksam Militärkasernen zu Schulen umbauen und sorgte mit der "Alphabetisierungskampagne" von 1961 dafür, dass die verarmte Landbevölkerung Lesen und Schreiben lernte. Die Analphabetenrate ist bis heute sehr niedrig, Schulen und Universitäten sind kostenlos. Daher landete das kubanische Bildungssystem in internationalen Studien vergleichsweise weit vorn. Staatsmedien und Regierungsmitglieder werden nicht müde, die Bevölkerung daran zu erinnern. So schuf man die Erzählung von der kubanischen Bildungsrepublik. Sie soll die sozialistische Regierung legitimieren - gerade in diesen Zeiten, in denen sich Kuba den USA annähert und das alte Feindbild an Wirkung verliert.

Das Problem ist nur: Die Erzählung vom kolossalen Bildungssystem entpuppt sich zunehmend als Mythos. Um das zu verstehen, muss man Lehrern wie Ricardo Prieto, der in Wirklichkeit anders heißt, zuhören. Seine Schüler legen Ende des Monats das Abitur ab. Vor der Kneipe erzählt er, wie sie ihm ein Shampoo schenkten. Am "Tag des Lehrers" war das, dem 22. Dezember. Geschenke für die Pädagogen sind an diesem Tag in Kuba üblich. "Ich habe mich riesig gefreut, denn ich hätte mir das Shampoo niemals leisten können", sagt er. Umgerechnet kostet es etwa drei Euro.

Prieto unterrichtet Englisch und Französisch an einem Preuniversitario, einer Schule für die kubanische Oberstufe. Dafür zahlt ihm der Staat 550 Pesos monatlich, das sind 21,70 Euro. Früher war das in Kuba viel Geld, doch nach der Wirtschaftskrise der Neunzigerjahre, Subventionskürzungen bei Lebensmitteln und steigenden Preisen reicht es lange nicht mehr zum Leben. Schon 2008 errechnete das Forschungsinstitut der kubanischen Wirtschaft in Havanna, dass eine vierköpfige Familie mindestens 63 Euro monatlich benötige, um über die Runden zu kommen, fast das Dreifache also von Prietos Gehalt.

"Mir bleibt keine Wahl, ich muss nebenher Rikscha fahren", sagt er. Von acht bis halb fünf unterrichtet Prieto, von sieben Uhr abends bis morgens um drei ist er Taxifahrer. Vor der Kneipe zündet er sich eine Zigarette an und lehnt den Kopf gegen eine Mauer. "Lange halte ich das nicht mehr durch." Der junge Englischlehrer ist nicht der Einzige, der ans Hinwerfen denkt.

Zehntausende seiner Kollegen haben das in letzter Zeit getan. Nun jobben sie als Kellner, Fremdenführer oder Taxifahrer. Denn mit dem Geld, das die Kuba-Urlauber Jahr für Jahr auf die Insel bringen, lässt es sich vergleichsweise gut leben. Noch besser könnte es werden, wenn bald US-Touristen ins Land strömen, wie von den Regierungen beider Länder beabsichtigt. Bisher kommen die meisten Touristen aus Kanada oder Westeuropa. Sie zahlen in der Devisenwährung, den "Pesos Convertibles", die viel mehr wert sind als die "Pesos Cubanos", in denen Staatsangestellte ihr Gehalt bekommen. Mit einer längeren Taxifahrt, sagt Prieto, verdiene er schnell ein halbes Lehrer-Monatsgehalt. Künftig könnten sich noch viel mehr Pädagogen umorientieren - und den Niedergang beschleunigen.

Die Abwanderung der Lehrer schadet dem Prestige des kubanischen Bildungssystems. Seit Jahren gibt es einen eklatanten Mangel in den Klassenzimmern, den die Regierung immer schlechter kaschieren kann. Schon 2008 fehlten 8000 Pädagogen. Nun verschärft er sich: In diesem Schuljahr sind 12 000 Stellen unbesetzt. Dass der Mangel nicht noch größer ist, liegt an der Kreativität der Regierung: An manchen Schulen wurden Pensionierte aus dem Ruhestand zurückgeholt, an anderen unterrichten Schulabgänger als "Notstandslehrer". Sie sind Anfang 20 oder sogar jünger.

Bald dürfte sich das Problem verschlimmern, da Interessenten wegen des miesen Verdienstes ausbleiben. Schon 2012 waren Medienberichten zufolge 80 Prozent der Lehramts-Studienplätze vakant. Auch an den Hochschulen legen Dozenten ihre Jobs nieder, um im Tourismus zu arbeiten. Eine promovierte Philosophin kündigte kürzlich an der Universität Havanna, nun vermietet sie Zimmer.

Eltern flüchten sich in Nachhilfe

Bei den Eltern leidet der Ruf der Bildungseinrichtungen. "Der Unterricht ist viel schlechter als früher", sagt Magalia Hernández, Mutter und früher selbst Lehrerin. Auch sie heißt in Wirklichkeit anders. Ihr Sohn schreibt von diesem Montag an seine Abiturklausuren und möchte danach studieren. Damit seine Noten gut genug werden, geht er nach dem Unterricht zu einem "Repasador", einem "Wiederholer", wie die Nachhilfelehrer in Kuba genannt werden. "Ohne die Nachhilfe könnte er sich das Studium abschminken", sagt seine Mutter, "der Unterricht reicht als Vorbereitung lange nicht mehr." Weil viele Eltern so denken wie Hernández, ist ein Schwarzmarkt für Nachhilfe entstanden, die Stunde kostet in der Regel einen Dollar. Einige Lehrer verabschieden sich auch deswegen aus den Schulen: Mit der illegalen, privaten Nachhilfe können sie mehr verdienen.

Wie sehr die niedrigen Lehrergehälter das Bildungssystem in Gefahr bringen, zeigte auch ein Bestechungsskandal beim kubanischen Abitur: Lehrer und Mitarbeiter des Bildungsministeriums hatten 2014 die Prüfungsaufgaben gestohlen und versucht, sie an Abiturienten zu verkaufen. Das Angebot: Bis zu 180 Euro pro Klausur. Die Beteiligten wurden mit bis zu acht Jahren Gefängnis bestraft, die Regierung in Havanna brandmarkte sie als "Attentäter gegen das nationale Prestige" und sprach von einem "Zeichen des Wertverfalls".

Zurück zur Kneipe, vor der Ricardo Prieto steht. Heute hat er keine gute Nacht erwischt, nach dem dicken Touristen öffnet sich die Kneipentür lange Zeit nicht mehr. Mit umgerechnet drei Euro in der Tasche wird er später nach Hause fahren. Als man ihn auf die im Korruptionsskandal verhafteten Lehrer anspricht, wird er ärgerlich. "Mit Wertverfall hat ihr Verhalten nichts zu tun", sagt er. "Sie versuchen nur zu überleben. So wie ich auch."

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SZ vom 27.04.2015/mkoh
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