Viele in der Republik sind zu Recht erfreut über den geplanten Mindestlohn von 8,50 Euro. Viele Hungerlöhne aber werden bleiben - und einfach verschwiegen: weil die Betroffenen individualisiert und miserabel organisiert sind, weil die Gewerkschaften sich nicht darum kümmern, und weil die Institutionen, die eine Fürsorgepflicht hätten, kläglich versagen.
Die Rede ist von 90 000 wissenschaftlichen Lehrbeauftragten an den Universitäten und Fachhochschulen. Sie schultern zwischen 30 und 40 Prozent des curricular vorgeschriebenen Lehrdeputats. Sie ermöglichen die oft kaum zu schaffende Erfüllung der vorgeschriebenen Studienanforderungen. Kurz: Sie sind unverzichtbar für die Aufrechterhaltung des Lehrbetriebs. Aber sie werden behandelt wie der letzte Dreck.
Viele dieser Lehrbeauftragten arbeiten zum Nulltarif. Sie dürfen sogar oft Kopien und Lehrmaterialien noch selbst bezahlen. Viele arbeiten zu einem gestaffelten Stundensatz zwischen 20 und 60 Euro - die große Mehrheit der Honorarverträge kreist um 25 Euro pro Stunde. Natürlich sind die Vorbereitungs- und Beratungszeiten je nach Fach verschieden.
300 Stunden Lesezeit
Eine Spanisch-Dozentin wird mit weniger Vorbereitungszeiten auskommen als ein Lehrbeauftragter in Germanistik, Politikwissenschaft und Soziologie. Doch ein promovierter Historiker zum Beispiel, der ein Seminar zur "sozialwissenschaftlichen Debatte zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs" anbietet, muss vorher 30 bis 40 Bücher und rund 50 Aufsätze lesen - das sind ungefähr 300 Stunden Lesezeit. Es kommen Vorbereitungen zu den Lehrveranstaltungen hinzu und Betreuungsleistungen für Seminararbeiten. Bei einem Honorar über 700 Euro pro Semester landet dieser Historiker bei einem Stundenlohn von zwei Euro.
Wer eine Arbeitsgruppe von Pharmazeuten und Biologen im Grundstudium betreut, muss dafür meist weniger arbeiten als ein Wissenschaftler, der Hausarbeiten liest, korrigiert, mit den Studenten bespricht. Aber jenseits aller Unterschiede ist unabweisbar, dass eine große Mehrheit der Lehrbeauftragten den dokumentierten Arbeitsleistungen zufolge bei circa drei Euro Stundenlohn liegt. Und alles bleibt still in der Republik, kein Aufschrei, nirgends. An Deutschlands Universitäten gibt es keinen Mindestlohn, sondern maximale Ausbeutung.
Krise des überforderten Lehrkörpers
So gesehen gibt es, wie der Wissenschaftsrat zu Recht rügt, nicht nur einen dramatischen Professorenmangel: Die Zahl der Studierenden ist in den vergangenen sechs Jahren um 22 Prozent gestiegen, die Zahl der Professoren nur um zehn Prozent. Es gibt, noch viel dramatischer, eine Krise des überforderten Lehrkörpers insgesamt. Wer auf die schamlose Ausbeutung der Lehrbeauftragten setzt, dem sind die katastrophalen Lehr-Lern-Verhältnisse an deutschen Hochschulen egal. Auch der Wissenschaftsrat räumt dieser Problematik nur eine dürre Fußnote ein.
Dabei belegen gerade seine Statistiken, wie die Einsparungen an den Hochschulen mit billigen Lehrbeauftragten kompensiert worden sind. Zu dieser Beschreibung gehört natürlich auch, dass der größte Teil der wissenschaftlichen Mitarbeiter an den Hochschulen ohne Promotion auf halben, bestenfalls Zwei-Drittel-Stellen sitzt - also mitnichten sich goldene Nasen verdienen kann. Zudem liegen sie oft an der Kette der Hochschullehrer. Ein Mittelbau mit Eigensinn und Kreativität ist in der professorenfixierten Universität nicht mehr wirklich gewollt.
Mit der Lage der Lehrbeauftragten korrespondiert die Lage der habilitierten Dozenten, die in der Regel zum Nulltarif arbeiten, um ihre jeweilige Lehrbefugnis zu erhalten. Die von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Posaunen ausgerufene Bildungsrepublik leistet es sich, zwischen 2000 und 3000 habilitierte Wissenschaftler - Spitzenkräfte ihrer Fächer also - zum Nulltarif auszunutzen, ohne ihnen eine Dauerstelle, eine Berufung oder wenigstens eine Teilzeitprofessur auf Zeit anbieten zu können. So viel menschenunwürdige Ressourcenverschwendung ist einmalig in der Republik.
Wo aber bleibt der Protest der Betroffenen, der Forschungs- und Lehrstreik, wenigstens eine Demonstration, Mahnwache, Protestnote?
Nichts geschieht. Es gibt keine Selbstermächtigung der Privatdozenten, keine wirkliche Selbstorganisation. Sie gehen nicht auf die Straße. Sie halten eher das Ohr ans Fenster gedrückt, ob sie nicht doch noch ein Ruf auf einen Lehrstuhl erreicht. Sie hoffen auf den schmückenden Eintrag im Lebenslauf und betreiben solange lieber beispiellose Selbstausbeutung.
Nur zu leiden, reicht nicht
Jetzt immerhin rühren sich die ersten Lehrbeauftragten-Initiativen an den Musikhochschulen Baden-Württembergs und an den Berliner Hochschulen. Die Institutionen, die als Lobby der Lehrbeauftragten auftreten könnten, engagieren sich jedoch so gut wie nicht: Die Gewerkschaft Verdi so wenig wie die Hochschulverwaltungen, Kultusministerien, Hochschulrektorenkonferenz, Parteien.
Wo es keinen Aufschrei gibt, werden auch keine Interessen artikuliert; nur zu leiden führt zu keiner öffentlichen Auseinandersetzung. Die Studierenden des Bildungsstreiks 2009/2010 waren vorerst die letzten Akteure, die diese miserablen Zustände anprangerten. Und weil die überregionalen Zeitungen der Republik immer seltener Redakteure haben, die sich professionell um Bildung kümmern, bleibt es ziemlich still in der Öffentlichkeit.
Von den Professoren ist auch keine Änderung zu erwarten - sie profitieren von diesem System. Die Studierenden, die Anspruch auf vernünftige Lehrveranstaltungen haben, wären die natürlichen Verbündeten der Lehrbeauftragten. Doch auch von ihnen ist vorerst wenig Protest zu erwarten. Eine öffentliche Debatte über die Personalstruktur an den Hochschulen wäre ein erster Schritt, besser jedenfalls als das jetzige systematische Verschweigen.
Voll daneben
Dabei liegen Lösungen auf der Hand. Wer einmalig einen Lehrauftrag erhält, muss besser bezahlt werden. Die langjährigen Lehrbeauftragten sollten Teilzeitstellen auf Zeit bekommen, um aus der diskriminierenden Honorarfalle herauszukommen. Habilitierte Dozenten wären zumindest zu Teilzeitprofessoren im Angestelltenverhältnis zu berufen. Das wäre ein Programm für die Hochschulen, das nach der Aufhebung des Kooperationsverbots zwischen Bund und Ländern durchaus zu realisieren wäre.
Der Mindestlohn, liebe Arbeitsministerin Nahles, ist ein guter Anfang. Aber diejenigen, die unter die Räder geraten, sieht die SPD so recht auch nicht. Lehrbeauftragte - so heißt es lapidar - haben keinen Arbeitnehmerstatus. Formal trifft das zu. In der Sache aber ist das voll daneben.