Stuttgart/Gütersloh (dpa/lsw) - Baden-Württemberg kann den Bedarf an Kitaplätzen trotz eines massiven Ausbaus in den vergangenen Jahren bei weitem nicht decken und unterläuft damit in vielen Teilen des Landes den Rechtsanspruch der Eltern auf eine Betreuung. Nach einer neuen Studie der Bertelsmann Stiftung fehlen im kommenden Jahr 57.600 Kitaplätze. Um diese Plätze zu schaffen, müssten die Kommunen als Kita-Träger zusätzlich 16 800 Fachkräfte einstellen. Die Stiftung schätzt die Kosten dafür auf über 700 Millionen Euro jährlich - weitere Betriebs- und Baukosten noch nicht eingerechnet.
Stiftung nennt die Lage im Südwesten „untragbar“
Die Zahlen belegen laut den Experten der Bertelsmann Stiftung, dass Baden-Württemberg den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz auch bis 2023 nicht für jedes Kind, dessen Eltern einen Bedarf haben, einlösen könne. „Das ist in doppelter Hinsicht untragbar: Die Eltern werden bei der Betreuung ihrer Kinder nicht unterstützt, während Kindern ihr Recht auf professionelle Begleitung in ihrer frühen Bildung vorenthalten wird“, sagte Kathrin Bock-Famulla, Expertin für frühkindliche Bildung bei der Stiftung.
Die Kommunen im Südwesten fühlen sich durch die Studie in zweifacher Hinsicht bestätigt. Der Gemeindetag betonte, das Verhältnis Kinder pro Kita-Fachkraft sei bundesweit spitze. In den Kinderkrippen habe sich der Personalschlüssel zuletzt weiter verbessert, eine Erzieherin kümmere sich im Durchschnitt um 2,9 Kinder. In Kindergärten kümmerte sich zuletzt eine Fachkraft um rechnerisch 6,5 Kinder. Doch die Stiftung schüttete Wasser in den Wein: Immer noch 45 Prozent der Kita-Kinder würden in Gruppen betreut, deren Personalschlüssel nicht den wissenschaftlichen Empfehlungen entsprächen.
Kommunen wollen Abstriche bei hohen Kita-Standards
Steffen Jäger, Präsident des Gemeindetags, sagte, es liege an dem immensen Fachkräftemangel und den geltenden Standards, dass es für viele tausend Kinder kein Angebot geben könne. Er drängte das Land erneut zu Abstrichen bei Gruppengröße und Personalschlüssel. „Wenn man in einem theoretischen Beispiel die Fachkraft-Kind-Relation aus dem Freistaat Bayern auf Baden-Württemberg übertragen würde, ergäbe sich ein rechnerisches Mehr von rund 90.000 Plätzen.“ Es sei eine „fast zwangsläufige Schlussfolgerung dieser Studie“, die Sonderregeln für den Personalschlüssel und die Gruppengröße aus der Corona-Zeit zu verlängern. „Denn kurzfristig können in Baden-Württemberg keine zusätzlichen 16.800 Fachkräfte gewonnen werden, der Facharbeitsmarkt ist vollkommen leergefegt.“
Staatssekretär will Kita-Trägern entgegenkommen
Der zuständige Kultus-Staatssekretär Volker Schebesta (CDU) signalisierte Entgegenkommen. Man wisse um die schwierige Situation in den Kindertageseinrichtungen. „Mit unseren Regelungen in puncto Mindestpersonalschlüssel, der angekündigten Ausnahme bei der Gruppengröße oder der Kita-Einstiegsgruppe ermöglichen wir zudem auch kurzfristige Lösungen vor dem Hintergrund der aktuell sehr angespannten Situation.“ Schebesta erinnerte aber auch daran, dass das Land viel Geld investiert und so die Zahl der Erzieherinnen und Erzieher in Ausbildung im Vergleich zum Jahr 2008/2009 fast verdoppelt habe. Zudem will Schebesta demnächst ein Programm für Quereinsteiger starten.
Zur Erinnerung: Der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr besteht seit 2013 und für Kinder ab drei Jahren seit 1996. Wenn dieser nicht eingelöst wird, können Eltern dagegen klagen.
Die Experten der Stiftung sehen die Probleme bei der Gewinnung von Fachpersonal und analysieren: „Eine fatale Wechselwirkung erschwert die Aufgabe: Zu wenig Personal verschlechtert nicht nur die Qualität der frühkindlichen Bildung für die Kinder, sondern auch die Arbeitsbedingungen für die pädagogischen Fachkräfte.“ Dadurch werde es schwieriger, Personal zu halten. Damit dieser „Teufelskreis“ durchbrochen werden könne, brauche es eine „erkennbare politische Priorität für eine bessere Personalausstattung“.
SPD schlägt „Platz-Sharing“ vor
Der SPD-Bildungsexperte Daniel Born forderte die Kommunen als Träger zu flexiblen Lösungen auf, zudem müsse das Land wartenden Eltern finanziell unter die Arme greifen. Er schlug ein „Platz-Sharing“ vor, bei dem sich zwei Kinder aus zwei Familien zu Beginn der Kita-Zeit einen Kita-Platz teilen, wenn es mehr Nachfrage als Plätze gibt. Born hält zudem ein „Brückenelterngeld“ für nötig. „Bei vielen endet das Elterngeld regulär 12 oder 14 Monaten nach Geburt.“ Das Land müsse die Zeit finanziell überbrücken, bis das Kind in die Kita kann und Eltern wieder arbeiten gehen können.
Zuletzt hatte eine Studie über enttäuschende Leistungen von Grundschülern im Südwesten für Furore gesorgt. Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Kultusministerin Theresa Schopper (beide Grüne) hatten daraufhin erklärt, die Regierung müsse den Blick vor allem auf die frühkindliche Bildung lenken.
© dpa-infocom, dpa:221020-99-191148/5