Behinderte im Regelunterricht:Revolution fürs Klassenzimmer

Der Plan der Kultusminister, behinderte Schüler nicht übereilt in Regelschulen zu integrieren, ist richtig - denn Inklusion braucht Zeit. Von gemeinsamen Klassen, wo Schwache untergehen und Starke ausgebremst werden, hat niemand was. Von individueller Förderung hingegen profitieren alle.

Johann Osel

Manchmal möchte man die Kultusministerkonferenz auf den Mond schießen, zu oft verheddern sich die Ressortchefs der Länder in Kleinstaaterei, packen Themen schnarchnasig an oder erstellen hochtrabende Papiere, an die sich keiner halten muss. Nun steht die "Inklusion" auf der Agenda: Kinder mit und ohne körperliche oder geistige Beeinträchtigung sollen gemeinsam in Regelschulen unterrichtet werden. 2009 hat Deutschland die Behindertenkonvention der Vereinten Nationen ratifiziert.

Und was machen die Minister? Sie erlegen sich keinen Zeitplan auf, sie richten inklusive Klassen sachte ein, sofern es regional gut möglich ist. Genau das ist aber die richtige Strategie. Inklusion ist keine Reform, sondern eine Revolution fürs Klassenzimmer - sie hurtig und ohne optimale Rahmenbedingungen anzugehen, würde dem Projekt nur schaden. Oder es scheitern lassen.

Das Vertragswerk der Vereinten Nationen fordert zwar, dass Behinderte "nicht vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen" sind; es erwähnt jedoch auch den freien Zugang "zu einem integrativen, hochwertigen Unterricht". Dieser entsteht nur, wenn Ausstattung und Personal auf die gemischte Schülerschaft, auf unterschiedliche Geschwindigkeiten beim Lernen tatsächlich ausgerichtet sind. Da ist es mit ein paar Rollstuhlrampen nicht getan.

Nötig sind etwa Pädagogen-Teams für jede Klasse, für Gruppenarbeit statt Frontalunterricht, für individuelle Förderung. An Sonderschulen, die durch die Inklusion zunehmend überflüssig würden, stellen Körperbehinderte die Minderheit, das Gros weist Lernschwächen oder Störungen der Sozialentwicklung auf. Um diesen Schülern ein ideales Umfeld zu bieten, muss man viel Geld ausgeben. Hier lässt sich nicht einfach ein Schalter umlegen.

Holt man Förderschüler ohne Investitionen ins "normale" System, leidet der Unterricht - was viele Bürger skeptisch macht. Jüngst hatte eine Studie gezeigt, wie bildungsbewusste Eltern oft einen Bogen um Schulen mit vielen Zuwandererkindern machen. Auch bei inklusiven Klassen, so befürchten Eltern Umfragen zufolge, könnte das gemeinsame Lernen auf Kosten des Niveaus gehen. Nur mit den besten Bedingungen lässt sich dieser Vorbehalt ausräumen und der Gedanke der Inklusion in die Gesellschaft tragen. Mit einer Umsetzung der UN-Konvention zum Spartarif wird es breite Akzeptanz kaum geben - man fährt die Inklusion fahrlässig gegen die Wand.

Beim Geld sind die Länder in der Pflicht. Hilfen des Bundes sind wegen des Kooperationsverbots nicht in Sicht. Die schwarz-gelbe Koalition möchte die Regel zwar lockern, allerdings nur für die Finanzierung von Hochschulen, nicht von Schulen. Es bleibt also auf den ersten Blick kaum Spielraum. Dennoch haben die Kultusminister zwei Optionen, mittelfristig Geld für inklusive Klassen aufzutreiben. Zum einen müssen Mittel und Stellen, die durch wegfallende Sonderschulen frei werden, eins zu eins ins inklusive Schulsystem übergehen. Andererseits wird es durch den Geburtenrückgang weiter sinkende Schülerzahlen geben. Das so gesparte Geld muss im Schulsystem bleiben und für besseren Unterricht genutzt werden. Hier ist ein couragiertes Auftreten gegenüber den Finanzministern gefragt, die qua Amt schrumpfende Schülerzahlen in erster Linie mit schrumpfenden Schuletats gleichsetzen dürften.

So sehr man das Drängen der Behindertenverbände verstehen kann: Inklusion braucht Zeit. Von gemeinsamen Klassen, wo Schwache untergehen und Starke ausgebremst werden, hat niemand was. Von einer durchdachten Inklusion schon: Vielen Betroffenen eröffnen sich mehr Chancen als in Förderschulen. Mit behinderten Mitschülern lernen Kinder leichter Sozialkompetenz; und von individueller Förderung profitieren alle - selbst Spitzenschüler.

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