Guido Wolf und Hans-Ulrich Rülke, die Spitzenkandidaten von CDU und FDP, begannen die Augen zu rollen und zu feixen: Ach, dieser Staatsphilosoph Kretschmann! Dem grünen Ministerpräsidenten wird ja immer wieder vorgeworfen, er flüchte ins Grundsätzliche, sobald es im politischen Schlagabtausch konkret wird. Aber Winfried Kretschmann lässt sich da nicht beirren, das tat er auch im Stuttgarter Hospitalhof nicht, auf einer Podiumsdiskussion zum Wahlkampfschlager Bildungspolitik. Kretschmann zitierte unverdrossen Artikel 11 der Landesverfassung von Baden-Württemberg: "Jeder junge Mensch hat ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage das Recht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung."
Das ist die Messlatte für jegliches politisches Handeln, zumal wenn man weiß: In Baden-Württemberg ist, mehr als in den anderen Bundesländern, die soziale Herkunft entscheidend für den Erfolg von Kindern im Bildungssystem. Laut einer Studie, die kurz vor der Wahl 2011 erschien, war die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen, für Akademikerkinder 6,6-mal so hoch wie für Facharbeiterkinder. Ob das Land nach fünf Jahren grün-roter Regierung gerechter geworden ist? Dazu kann es noch keine verlässlichen Daten geben. Aber: Bildung eignet sich hervorragend für Streit und Polemik.
Die Bildungspolitik ist laut Umfragen das einzige landespolitische Feld, in dem die grün-rote Regierung wirklich angreifbar ist. Deshalb eröffnet die Opposition, mit gehöriger publizistischer Unterstützung, hier ihren wichtigsten Kampfplatz. Grün-Rot hat viel Geld in frühkindliche Bildung gesteckt, das Ganztagesangebot ausgebaut. Vor allem aber hat man eine neue Schulform geschaffen, die Gemeinschaftsschule, eine Kombination aus Haupt- und Realschule ab der 5. Klasse mit der Möglichkeit, auch das Abitur anzubieten. Schüler werden nach modernen Konzepten unterrichtet. Noten gibt es nur auf Nachfrage, Schwächere und Stärkere sollen voneinander profitieren. Ein Generalangriff auf Realschule und Gymnasium, so stellt das die Opposition dar, Bildungsstandards würden aus ideologischen Gründen verwässert. Vor dem Hintergrund ist auch der Wahlkampfslogan der CDU zu verstehen: "Freiheit statt Bevormundung".
Bildungspolitik in Baden-Württemberg:Wahlkampf statt Schulfrieden
Neue Gemeinschaftsschulen, Ganztagsangebote, weniger Noten: Grün-Rot hat viel verändert an Baden-Württembergs Schulen. Vielleicht zu viel? Die CDU wittert ihre Chance, die populäre Landesregierung zu attackieren.
CDU-Mann Wolf hatte ursprünglich angekündigt, als Regierungschef die Gemeinschaftsschulen abzuschaffen. Nun will er keine neuen mehr genehmigen und die bestehenden in sein Konzept der "Realschule plus" überführen, eine Kombination von Haupt- und Realschule mit einer Orientierungsphase in den fünften und sechsten Klassen. Keinesfalls dürften diese Schulen das Abitur anbieten.
FDP-Kandidat Rülke plädiert dafür, den Gemeinschaftsschulen eine "faire Chance" zu geben. Aber Schluss müsse sein mit ihrer Bevorzugung, die das gewachsene Schulsystem im Land ruiniere: Grün-Rot investiere pro Kopf unangemessen viel Geld in Gemeinschaftsschüler, um langfristig den anderen Schulformen den Garaus zu machen. Auch den freien Schulen. Deren Dachverbände hatten die Diskussion im Hospitalhof veranstaltet. Auch sie müssten bluten für die Gemeinschaftsschule, sagen Wolf und Rülke. Im Auditorium finden sie Zustimmung.
Schulpolitik ist Hoheitsgebiet der Länder, oft gibt es Bildungswahlkämpfe. Doch aus dem Streit um Struktur ist in Deutschland etwas die Luft raus. "Die große ideologische Schlacht findet nicht mehr statt", sagt die Chefin der Kultusministerkonferenz, Bremens Senatorin Claudia Bogedan.
Bayern mit seinen Haupt- und Mittelschulen? Oder Länder mit Gemeinschaftsschulen, wie Sachsen-Anhalt oder Schleswig-Holstein? Sollen sie doch, lautet der Tenor der Fachpolitik. "Natürlich hat man aus den scharfen Debatten früherer Jahrzehnte etwas gelernt: dass das Bildungssystem nicht besser wird, indem man nur die Hüllen verändert - wichtig ist, was in den Schulen stattfindet", sagt Bildungsforscher Hans Brügelmann. Jedoch habe die Struktur Folgen, weil eine frühe Aufteilung nach der vierten Klasse Gerechtigkeit erschwere. Und es geht um Symbolik, so der Professor: "Immer wenn das Gymnasium infrage gestellt wird, setzen sofort Mechanismen der Verteidigung ein, der Reformerseite wird Leistungsfeindlichkeit unterstellt. Politiker wissen, welches Feuer in der Debatte steckt. Strukturreformen sind daher nur möglich als politischer Kuhhandel - wobei das Gymnasium wegen seines Symbolwerts nicht angetastet werden darf."
Eben das Gegenteil, schleichend, befürchtet die Opposition in Stuttgart. Zupass kam ihr, dass die Grüne Jugend im Vorwahlkampf "wirklich eine Schule für alle" forderte. Kretschmann musste seine ganze Autorität in die Waagschale werfen, um die Debatte zu stoppen: "Solange ich Ministerpräsident bin, wird das Gymnasium nicht geschleift, sondern gestärkt." In Wahrheit war die Gemeinschaftsschule ein Anliegen der SPD. "Herkunft darf kein Schicksal sein", sagte Landeschef Nils Schmid auf dem Bildungspodium und erinnerte an die Ursprünge der SPD als Arbeiterbildungsverein. Aber sein Schicksal ist, dass er in Kretschmanns Schatten steht.
Schmid, stellvertretender Regierungschef, hatte zudem kein glückliches Händchen, als er 2011 die Parteifreundin Gabriele Warminski-Leitheußer zur Kultusministerin machte. Sie packte zu viel auf einmal an, manches chaotisch. Die verbindliche Grundschulempfehlung wurde sofort abgeschafft. Lehrerverbände warfen ihr vor, zu wenig Präsenz zu zeigen. Die Initialen der Ministerin, GWL, wurden von Spöttern so übersetzt: "Ganz wenig Lust". Nach ihrem Rücktritt präsentierte Schmid den in der SPD-Fraktion etablierten Andreas Stoch - um die Sache solide zu managen.
Es wurde etwas ruhiger um die Gemeinschaftsschule. Aufruhr löste aber ein neuer Bildungsplan aus, der sexuelle Vielfalt zum Querschnittsthema im Unterricht machte. Aus dieser Zeit rührt der Argwohn über Umerziehung und Gleichmacherei. Die Gemeinschaftsschulen an sich wurden durchaus schonend eingeführt: nicht als Verpflichtung. 271 Standorte sind mittlerweile in Betrieb, 28 weitere hat Stoch jüngst genehmigt. Viele Kommunen sehen darin ihre Chance, als Schulstandort überhaupt erhalten zu bleiben. Denn die Hauptschulen und damit das alte dreigliedrige Schulsystem sind kaum mehr zu retten.
Keine andere Schule steht unter derart starker Beobachtung. Im Januar stellte Stoch eine Studie über die Gemeinschaftsschulen vor. Wissenschaftler der Unis Tübingen und Freiburg kamen zum Ergebnis: Die Qualität des Unterrichts dort sei vergleichbar mit der an herkömmlichen Schulen. Der hohe Anspruch an das individuelle Lernen drohe jedoch gerade schwächere Schüler zu überfordern. Wenn die Förderung und die Rahmenbedingungen stimmen, könnten Schüler von der Gemeinschaftsschule stark profitieren. Entscheidend sei, wer an der Tafel stehe. Auf die Lehrer und ihre Qualifikation kommt es an - darauf wird man sich wohl verständigen, wenn, wie Umfragen andeuten, bislang konkurrierende Parteien eine Regierung bilden müssen - Schwarz-Grün, Schwarz-Rot, Grün-Rot-Gelb. Und wenn sich der Pulverdampf des Wahlkampfs verzogen hat.