Baden-Württemberg:Grün-Rot streicht "sexuelle Vielfalt" aus dem Bildungsplan

Ist die baden-württembergische Landesregierung unter dem Druck der Gegner eines Sex-Toleranz-Unterrichts eingeknickt? Die strittige Formulierung im Bildungsplan ist ersetzt worden - Grün-Rot spricht von einer Versachlichung der Debatte.

190.000 Menschen haben die Petition "Zukunft - Verantwortung - Lernen: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens" unterzeichnet. Eine Gegeninitiative bei der Online-Plattform Open Petition unterstützen immerhin etwas mehr als 90.000 Menschen. Das Arbeitspapier zum baden-württembergischen Bildungsplan treibt Gegner und Befürworter seit Wochen auch immer wieder auf die Straße. Die Kritiker protestieren dagegen, dass die "Akzeptanz sexueller Vielfalt" als Querschnittsthema in der Schule behandelt werden soll. Über den Biologie-Unterricht hinaus soll bei passender Gelegenheit im Unterricht über homosexuelle, lesbische und Transgender-Lebensstile gesprochen werden. So sah es zumindest der ursprüngliche Entwurf für den Bildungsplan vor.

Doch die Formulierung "sexuelle Vielfalt" sucht man in der überarbeiteten Version vergeblich. Außerdem wurden die im Bildungsplan verankerten "Leitprinzipien" für die Haupt-, Werkreal-, Real- und Gemeinschaftsschulen sowie das neunjährige Gymnasium - G 8 bekommt einen eigenen Bildungsplan - in "Leitperspektiven" umbenannt. Diese wurden um den Punkt "Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt" erweitert.

Am Dienstag beriet das Kabinett überraschend über die Revision. Das Thema sei kurzfristig auf die Agenda gesetzt worden, hieß es dazu aus dem Staatsministerium zur FAZ, man habe ausführlich darüber sprechen wollen. Nachdem kaum ein anderes schulpolitisches Thema in den vergangenen Monaten für so hitzige Debatten gesorgt hat wie der baden-württembergische Bildungsplan, stellt sich jetzt die Frage: Ist die neue Version ein Zugeständnis an die Gegner, die zumindest im Netz auch aus anderen Bundesländern kommen?

"Daran halten wir weiterhin ohne Wenn und Aber fest"

Nein, sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann, beim Thema Akzeptanz sexueller Vielfalt gebe es kein Einknicken. Dem Grünen zufolge lautet der Auftrag an Lehrer weiterhin, in einem breiten Diversitätskontext auch über alternative Liebes- und Lebensformen zu sprechen. In einer gemeinsamen Erklärung von Kretschmann und Kultusminister Andreas Stoch (SPD) heißt es: "Im Kern verfolgen wir das Anliegen, das Thema Toleranz und Akzeptanz im Bildungsplan zu verankern. Daran halten wir weiterhin ohne Wenn und Aber fest. Es hat sich aber gezeigt, dass das Arbeitspapier zu den Leitprinzipien, in dem das Thema 'Akzeptanz sexueller Vielfalt' als ein Querschnittsaspekt in allen Leitprinzipien aufgenommen war, zu Missverständnissen geführt hat."

Der Ministerpräsident betont, es sei auch zuvor nie um "sexuelle Praktiken" gegangen, sondern darum, "junge Menschen zu unterstützen, sich zu mündigen Bürgern mit eigener Urteilsfähigkeit zu entwickeln". Der neue Entwurf, der nach Gesprächen mit Kirchen und LSBTTI*-Organisationen entstanden sei, solle die Debatte versachlichen.

"Es werden darin neben der sexuellen Vielfalt die Themen Toleranz und diskriminierungsfreier Umgang mit Vielfalt in personaler, religiöser, kultureller, ethnischer und sozialer Hinsicht in einem größeren Kontext behandelt", erklärte Kultusminister Stoch und betonte: "Das Thema 'Akzeptanz sexueller Vielfalt' erhält in diesem Zusammenhang einen hohen Stellenwert im neuen Bildungsplan." Ziel sei es, "die Schule zu einem von Vorurteilen und Diskriminierungen freien Raum" zu machen.

CDU kritisiert "kosmetische Korrekturen"

Während die FDP in Baden-Württemberg die Änderungen von Grün-Rot am Bildungsplan begrüßt, spricht die CDU von "kosmetischen Korrekturen". Und auch die Medien sehen die Überarbeitungen kritisch. So kommentierte die Schwäbische Zeitung das neue Papier mit den Worten:

Dass der Streit um sexuelle Vielfalt im Unterricht vom neuen Arbeitspapier weggewischt werden könnte, wird dagegen Wunsch bleiben. In den letzten Monaten hat sich bei vielen Gegnern die Angst verfestigt, das Land verfolge an den Schulen eine geheime Geschlechterpolitik. Wer so was glaubt, wird sich von kraftloser Krisenkommunikation aus dem Kultusministerium nicht vom Gegenteil überzeugen lassen.

Die Befürworter der ursprünglichen Version des Bildungsplanes dürften vom neuen Entwurf ebenfalls eher enttäuscht sein. Denn in der Diskussion geht es nur vordergründig um vermeintlich missverständliche Begrifflichkeiten. Die Debatte zeigt, wie tief Ressentiments gegen alternative Liebes- und Lebensformen nach wie vor bei Teilen der Bevölkerung verankert sind.

*LSBTTI steht kurz für für: Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Transsexuelle und Intersexuelle.

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